Die Achtsamkeits-Revolution
lisiertes geistiges Bild statt des Aufgefassten Bildes zu erreichen versuchten, jenem Zeichen, das spontan in Erscheinung tritt, wenn der Geist in ausreichendem Maße auf seinen Meditationsgegenstand fokussiert ist. Auch ich habe es anfänglich bei meiner Shamatha-Praxis mit dieser Herangehensweise probiert. Viele von uns - Asiaten wie Westler - mussten feststellen, dass die zur Hervorbringung und Aufrechterhaltung eines solchen Bildes erforderliche Anstrengung sehr erschöpft. Beim Üben der kurzzeitigen Konzentration auf ein vorsätzlich visualisiertes Bild nimmt man vielleicht keine Belastung wahr, wenn man es aber Tag um Tag, Woche um Woche, stets viele Stunden lang aufrechterhält, kann uns das die Energien abziehen und zu extremem Stress und übermäßiger Anspannung führen. Vielleicht hat der Buddha aus diesem Grund gesagt, dass Menschen mit exzessiver Neigung zum begrifflichem Denken Shamatha praktizieren sollten, indem sie die Achtsamkeit auf die Atmung kultivieren. Im Gegensatz zu anderen Techniken beruhigt sie Körper und Geist, statt diese durch anhaltende Anstrengung zu beengen. Und wenn dann bei dieser Praxis das geistige Bild des Erlangten Zeichens schließlich in Erscheinung tritt, geschieht es spontan und führt nicht zu jener Belastung, die durch die bewusst erzeugte Visualisierung entstehen kann.
EINE ACHTSAME LEBENSWEISE
Psychologen haben herausgefunden, dass man bei einer Vielfalt hochrangiger Fähigkeiten durchschnittlich fünf- bis zehntausend Stunden Training, acht Stunden am Tag, fünfzig Wochen im Jahr, aufbringen muss, um es in der betreffenden Disziplin zur Könnerschaft zu bringen. Das bezeichnet in etwa das Maß an nötigem Engagement, um auf dem Pfad des Erreichens von Shamatha wirklich voranzukommen. Es ist äußerst wichtig, dass man tagsüber zwischen den formalen Meditationssitzungen ein hohes Maß an Achtsamkeit und Selbstbeobachtung aufrechterhält.
Wenn wir über einen unserer sechs Sinne - Sehsinn, Hörsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn oder Geistesbewusstsein - irgendetwas wahrnehmen, gibt es da einen ganz kurzen Moment, bevor der Geist Begriffe und Zuschreibungen auf unsere unmittelbare Wahrnehmung projiziert. So lehrt es die buddhistische Psychologie. Es bedarf eines äußerst hohen Maßes an klarer Achtsamkeit und Geistesschärfe, um diesen Sekundenbruchteil reiner Wahrnehmung zu erkennen, bevor sie von Begriffen, Klassifizierungen und emotionalen Reaktionen überlagert wird. 43 Dieser ganz kurze Augenblick ist wichtig, weil er uns die Gelegenheit zu einer klareren Wahrnehmung der Natur der Phänomene bietet; jenes subtile mentale Bewusstseinskontinuum, aus dem alle For men sensorischer Wahrnehmung und begrifflichen Denkens hervorgehen, eingeschlossen. Eine einflussreiche Schule der buddhistischen Psychologie lehrt, dass pro Sekunde an die sechshundert Kognitionsimpulse auftreten, was sich mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie in etwa deckt. Diese Kognitionsimpulse ereignen sich in einem Kontinuum, ganz ähnlich wie die Einzelbilder einer Kinofilmrolle. Bei genauer Uberprüfung stellen wir fest, dass sich unsere Wahrnehmung jeden Augenblick verändert. Ständige Veränderung ist unsere Grundsituation, also eine Bedingtheit des Körpers, des Geistes, der Umwelt und des Gewahrseins oder Be- wusstseins selbst.
Obwohl wir jede Sekunde so ungefähr sechshundert Gelegenheiten haben, um in einen Aspekt der Wirklichkeit Einsicht zu nehmen, sind sich buddhistische Kontemplative und moderne Psychologen einig, dass wir die Dinge normalerweise in sehr viel langsamerem Tempo erfassen. Im Buddhismus spricht man in Zusammenhang mit den sich nicht bewusst mit irgendetwas befassenden Kognitionsmomenten vom unaufmerksamen Gewahrsein. Im geistigen Bewusstsein treten Erscheinungen auf, aber wir registrieren sie nicht und können uns auch hinterher nicht daran erinnern, sie beobachtet zu haben. Wenn wir zum Beispiel sehr intensiv Musik hören, präsentieren sich unserem Gewahrsein nach wie vor auch andere Sinneseindrücke wie zum Beispiel von außen kommende Geräusche, Formen, Farben und Körperempfindun- gen, aber wir nehmen nur einen geringen Bruchteil davon wahr. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sind höchst selektiv. An der Stabilität der Achtsamkeit lässt sich ablesen, wie viele feststellende Gewahrseinsimpulse auf unser gewünschtes Objekt konzentriert sind. Wenn wir zum Beispiel fünfzig feststellende Ko- gnitionsmomente pro Sekunde haben und alle fünfzig auf
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