Die Achtsamkeits-Revolution
sobald dieser Shamatha-Zustand erlangt worden ist, man das gesamte Kontinuum und den Fluss seiner Achtsamkeit einspitzig nach innen auf den Geist gerichtet halten soll. Entleeren Sie bei dieser Praxis Ihr Bewusstsein von allen Zeichen oder Bildern und Gedanken und lassen Sie es in einem Zustand ruhiger Gelassenheit ruhen. Wenn Sie Shamatha durch die Konzentration auf ein geistiges Bild erlangt haben, sollten Sie sich nun davon lösen und in einem von Erscheinungen freien Bewusstseinszustand ruhen. An diesem Punkt hat sich Ihr gesamtes Gewahrsein von Ihren physischen Sinnen zurückgezogen und Ihr Bewusstsein hat sich von allem diskursiven Denken und jeglicher bildlicher Vorstellung gelöst. Sie erfahren das nichtduale Gewahrsein des Bewussteins selbst. Auf diese Weise wird die relative Natur des Bewusstseins direkt wahrgenommen und ist doch nicht zu begreifen und nachzuweisen.
Haben Sie Shamatha erst einmal erlangt, können Sie nach Belieben darin eintreten. Während Sie in diesem Zustand verweilen, ist die gesamte Achtsamkeit einspitzig fokussiert, von den physischen
Sinnen, diskursiven Gedanken und geistigen Bildern abgezogen und ins Speicherbewusstsein vertieft. In diesem Zustand erscheinen dem Geist keine »Zeichen«; oder wenn ganz selten doch, dann aufgrund eines vorübergehenden Aussetzers der Konzentration. Sie verschwinden wieder rasch von allein, während der Geist in der lichtvollen klaren Leere des Speicherbewusstseins ruht. Es treten keine Erscheinungen von Ihrem Körper oder von irgendetwas anderem auf, sodass Sie das Gefühl haben, der Geist sei mit dem Raum untrennbar eins. So still und unbewegt ist der Geist geworden, so ohne Bezug zu diskursiven Gedanken, dass Sie das Gefühl haben, Monate oder sogar Jahre ununterbrochen in Meditation verweilen zu können, ohne dass Sie des Verstreichens der Zeit gewahr werden. Und während der Geist in diesen Zustand vertieft ist, ist er von einem inneren Wohlbefinden durchdrungen, das ein Aufkommen von unheilsamen Gedanken oder irgendwelchen Gefühlen des Unbehagens unmöglich macht. Düdjom Lingpa beschreibt diese Erfahrung wie folgt:
Schließlich werden alle groben und subtilen Gedanken in der leeren Weite der Grundnatur deines Geistes beruhigt. Du wirst in einem unveränderlichen Zustand zur Stille gelangen, in dem du eine Freude wie die von wärmendem Feuer, eine Klarheit wie die des Himmel in der Morgendämmerung und ein Freisein von Gedanken wie ein von Wellen unbewegter Ozean erfährst. 103
Während Sie in Shamatha verweilen, nehmen Sie vom Verstreichen der Zeit nur wenig oder gar nichts wahr, da das Zeitempfinden Erinnerungsvermögen voraussetzt, das seinerseits durch begriffliches Denken aktiviert wird. Wenn kein begriffliches Denken und Erfassen vorhanden ist, verweilen Sie in einem dem Empfinden nach zeitlosen Bewusstseinszustand. Sie können sich aber, bevor Sie ins meditative Gleichgewicht eintreten, darauf pro-
grammieren, dass Sie nach einer festgesetzten Zeit wieder aus der Meditation auftauchen; oder Sie können den Geist darauf einstellen, dass er durch einen spezifischen Klang oder einen anderen Sinnesreiz wieder aus dem Samadhi herausgeholt wird. Wenn Sie aus einer Meditation auftauchen, bei der Ihr Gewahrsein von allen Wahrnehmungen und Erfahrungen der Sinne abgekoppelt war, haben Sie ein Empfinden, als trete Ihr Körper plötzlich ins Sein.
BETRACHTUNGEN ZUR PRAXIS
Wie lange dauert es?
Wie lange dauert es, Shamatha zu erlangen, wenn man gut vorbereitet ist und in einer förderlichen Umgebung, zusammen mit guten Gefährten und unter der geschickten Führung eines erfahrenen Mentors, gewissenhaft und beständig praktiziert? Wie schon in der Einleitung erwähnt, besagt die tibetisch buddhistische mündliche Uberlieferung, dass eine Person mit »hohen Fähigkeiten« unter derartigen Bedingungen Shamatha in drei Monaten erreichen kann, eine Person mit »mittleren Fähigkeiten« in sechs Monaten und eine Person mit »minderen Fähigkeiten« in neun Monaten. Das mag für Mönche und Nonnen gelten, die nach Jahren des Studiums und der Schulung in ethischer Disziplin mit ihrer Shamatha-Praxis beginnen. Aber in der heutigen modernen Welt scheint dies doch eine allzu optimistische Einschätzung zu sein. Bedenken Sie, dass man üblicherweise fünftausend Trainingsstunden braucht, die im Verlauf von fünfzig Stunden pro Woche binnen fünfzig Wochen im Jahr absolviert werden müssen, will man in einer Fähigkeit hohe Könnerschaft erwerben.
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