Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Besitz der Stadtstreicher? Oder galt der Einbruch bei mir den Scheinen? Wurden sie gefunden und erst danach an die Stadtstreicher verteilt?«
»Wer sollte das wohl tun!«, riefen Trine und Ivanauskas im Chor. Nur dass Trine anschließend sehr nachdenklich wurde.
H
Eugenie Schäfer war von ihren Eltern immer mit deutschen Lauten gerufen worden. Französisch sprach sie ihren Namen erst aus, seitdem die Alten tot waren. Der vornehme Klang war das einzig Vornehme in Eugenies Leben. Sie war immer arm gewesen und meistens krank. Sie hatte immer in Ställen und Scheunen gehaust und nie lesen und schreiben gelernt. Was sie überleben ließ, war ihre Erfahrung mit Menschen. Sie besaß einen Instinkt für Wahrheit und Lüge, sie konnte auch hässliche von schönen Männern unterscheiden. Der, der am Rande des Marktes vor ihr auftauchte, war ein schöner. Nicht jung, aber schön. Sie kannte ihn, er hatte ihr schon einen Becher spendiert, und als sie nicht mehr stehen konnte, hatte er sie hingestellt. Und als sie die entzündeten Augen hatte, hatte er sie zu einem Medicus gebracht. Und als der sie nicht anfassen wollte, weil er sich ekelte, hatte er sie in eine Kutsche gesteckt und zu einer Kräuterfrau gefahren. Bei der hatte sie einige Wochen gelebt. Erst war sie blind geworden, danach war sie gesund geworden. Sie sah nicht mehr so gut wie früher, aber sie konnte sehen! Sie war reich.
Den Namen des Schönen kannte sie nicht. Sie merkte sich keine Namen mehr. Zweimal war sie verprügelt worden, weil man einen Namen von ihr hören wollte. Namen brachten kein Glück.
Er sagte: »Wir haben ein Problem.«
Sie sagte: »Ihr habt ein Problem, ich habe keins. Ich bin arm. Arme haben keine Probleme.«
»Du weißt, dass du bald wohlhabend sein wirst.«
Oh ja, das wusste Eugenie. Das Geld, das sie besitzen würde, war schon ausgegeben bis zum letzten Groschen: Zwei Kleider, ein Mantel, ein Stück Seife, ein Zuber mit heißem Wasser und so lange einen festen Platz im Gasthaus, bis sie sich satt gegessen hatte. Das würde einige Wochen dauern. Eugenie war schon lange nicht mehr satt gewesen.
»Hast du den Schuldschein auch sicher aufbewahrt?«
Lächelnd legte Eugenie die Hand auf den Busen.
»Was ich am Leibe trage, ist sicher wie in einer Burg. Eine wie mich fasst niemand an.«
Er fasste sie am Arm und führte sie einige Schritte von dem Marktstand fort.
»Das Geld wirst du bekommen«, sagte der Schöne. »Aber es könnte sich um einige Tage verzögern. Macht dir das etwas aus?«
»Sollte es?«
»Deine Schuldnerin bittet darum, einige Tage mehr Zeit zu haben.«
»Will sie fliehen?«
»Nein, sie ist aus Lübeck. Sie flieht nicht.«
Dann fing er an zu predigen. Eugenie kannte den Tonfall. Sie taten dann so, als würde alles an einem selbst liegen. Wenn man sich richtig benahm, würde alles gut werden. Wenn man sich falsch benahm, würde die Welt untergehen. Eugenie hatte viele Predigten gehört. Sie liefen immer auf das Gleiche hinaus: Man sollte geben, damit ein anderer behalten konnte. Zwischendurch fragte er, ob sie ihn verstehen würde. Dann nickte Eugenie. Er sollte bei ihr bleiben, dafür durfte sie nicht dumm erscheinen. Bis zuletzt fürchtete sie, dass er ihr den Schuldschein wegnehmen würde. Aber das tat er nicht, dazu hätte er sie berühren müssen. Als sie sich trennten, hatte Eugenie zugesagt, eine Woche Geduld zu haben. Sie wartete, bis der Schöne verschwunden war. Er hatte sie eingeladen, zu ihm zu kommen. Angeblich würde er ein Gasthaus besitzen. Eugenie lächelte. Dass Männer immer lügen mussten.
H
32 Lübecker mit Schulden. 29 von ihnen erklärten sich bereit, die Schulden unverzüglich und diskret zurückzuzahlen. Im Gegenzug würden sie den Schuldschein erhalten, und hätten nichts mehr zu befürchten. Schauplatz der Rückzahlung würde die Kanzlei des Advokaten Theuerkauff nahe dem Rathaus sein. Als Tag der Rückgabe wurde der kommende Freitag festgelegt, bis dahin waren es noch zwei Tage.
Drei Schuldner hatten sich noch nicht erklärt. Zu ihnen gehörte Regula Schnabel, deren Haus der Advokat zweimal persönlich aufsuchte, ohne die Hausherrin anzutreffen. Bei den zwei anderen Bürgern handelte es sich um einen Kaufmann und einen Lehrer. Der Kaufmann stand vor dem Bankrott, der Lehrer war angeblich mittellos. Beide sahen keine Möglichkeit, Geld aufzutreiben. Theuerkauff antichambrierte bei Schuldnern, deren Bonität außer Frage stand, und wollte sie bewegen, für die
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