Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Schulden der armen Bürger aufzukommen. »Wenn nur einer nicht zahlt, kommt die Sache vor Gericht und wird öffentlich. Das ist genauso, als würden alle 30 vor Gericht kommen.«
Mittags hatte Theuerkauff die Zusage. Um auf Nummer sicher zu gehen, organisierte er auch das Geld der Regula Schnabel.
52
In den besseren Kreisen der Stadt sprach man über die Affäre und nichts anderes. Immer noch erhoben sich vereinzelt Stimmen, die die Echtheit der Schuldscheine anzweifelten. Doch war die Zeit darüber längst hinweggegangen. Viele von den Lübeckern, die die Witwe Rosländer bekämpft hatten, standen in der Schuld ihres Mannes. Was für eine Blamage! Einige Schuldner machten sich unsichtbar, die Scham trieb sie in die Einsamkeit.
Andere brachten eine Ausrede nach der anderen vor und mussten sich Vorwürfe anhören, von denen die des Reeders Schnabel am heftigsten waren. »Ihr Taugenichtse! Ihr Plattfische! Ihr seid dümmer als ein schwedischer Seemann! Das kommt dabei heraus, wenn man untereinander heiratet. Eines Tages bricht der Wahnsinn aus und zeigt sich als Dummheit.«
Schnabel war nicht zu bremsen. Man war ihm in den Rücken gefallen. Alles, was er seit Monaten unternommen hatte, war hinfällig geworden. Viele seiner engsten Kollegen und besten Freunde hatten sich kaufen lassen – für einen schäbigen Klumpen Gold. So zornig Schnabel darüber war, so bodenlos fand er den letzten Streich, den Rosländer Lübeck gespielt hatte. Aber Schnabel wusste, dass zu diesem Streich zwei gehörten: einer, der spielte, und einer, der mit sich spielen ließ. Man hätte es verhindern können, man hätte nichts weiter tun müssen als so zu sein wie der Reeder Schnabel.
Natürlich wurmte ihn auch, dass die abstoßenden Nichtstuer vor den Fenstern der Schifferbörse die Nutznießer des geschmacklosen Streichs sein sollten.
Solange er im Lokal saß, gelang es Schnabel, woandershin zu gucken.
Doch irgendwann musste er das Lokal verlassen, eine Begegnung wurde nun unausweichlich. Es war nicht das Bier, das der Reeder getrunken hatte. Es war die Wut über seine Kollegen. Die konnte er nicht treten, aber die Nichtstuer konnte er treten, so trat Schnabel dem Erstbesten in den Hintern. Der Zorn musste einfach heraus. Als der Kerl wimmernd auf dem Boden lag, wartete Schnabel darauf, dass sich bei ihm ein Gefühl einstellen würde. Aber in ihm war nichts, nur Stille und rotglühender Zorn.
Plötzlich lag die Hand auf seiner Hand. Schnabel wollte es nicht glauben. Was bildete sich …?
»Seid Ihr der Schnabel?«
Er starrte die Frau an. Sie war jung, woher hatte sie die vielen Falten? Ihre Zähne waren verblüffend vollständig, über dem Mantel trug sie eine Weste aus Schaffell.
»Was ist nun? Müsst Ihr erst nachdenken, wer Ihr seid?«
Schnabel wollte sich abwenden, als er im Hintergrund jemanden lachen hörte. Er wusste nicht, wer das war, aber nun konnte er nicht einfach gehen. Nun musste er die freche Fragenstellerin zurechtstutzen.
»Ich bin Schnabel, was wollt Ihr?«
»Mit Euch reden.«
»Vergesst es.«
»Über Eure Frau.«
H
Als er gegen sechs noch nicht zu Hause war, begann sie sich zu fürchten. Er war nicht jeden Abend pünktlich, eine Verspätung musste nichts zu bedeuten haben. Aber heute war ein Tag, an dem es keine Zufälle gab. Sie stand am Fenster, sie wollte ihn sehen, wenn er kam. Ging er schnell? Oder schlenderte er? Ahnte er etwas? Wusste er alles? Befand er sich in Gesellschaft? Das wäre von Vorteil gewesen, die Anwesenheit eines Dritten würde seinen Zorn dämpfen. Sie würde die beiden aufs Beste bewirten, es sollte ihnen an nichts fehlen. Sie sollten leben wie im Paradies. Sie sammelte die Kinder um sich. Der Anblick von Kindern stimmte die Menschen friedlich, ihn allerdings seltener als andere. Er hatte an Kindern viel auszusetzen: dass sie herumrannten, dass sie Schreie ausstießen, dass sie über Dinge lachten, die er nicht lustig fand, dass sie aßen wie die Schweine. »Warum können sie nicht mit sechs Jahren erwachsen sein?«, hatte er anklagend gerufen. »Was ist das für eine Schöpfung, die Kaufleuten die Ruhe raubt?«
Sie hätte die Kinder nehmen und mit ihnen das Haus verlassen können. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Denn sie würde bleiben, sie würde Betten brauchen, Kosten würde sie verursachen. Man würde sich ärgern, dass man sie aufgenommen hatte. »Habt Ihr keinen Mann?«, würde man fragen, und Regula Schnabel müsste antworten: »Früher hatte ich
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