Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
erfahren hatte. Manches widersprach sich, manche Zahlen stimmten nicht überein, aber selbst, wenn man darauf verzichtete, die schrecklichsten Varianten für wahr zu halten, stand eine bedrückende Vision im Raum.
»Sie will es uns zeigen«, knurrte der Werftbetreiber. An ihm war bemerkenswert, dass zwei seiner Brüder ebenfalls eine Werft betrieben, an den Nebenflüssen der Elbe, keiner war groß, aber drei Mal klein war fast schon groß.
»Ihr kommt mir aufgeregt vor«, sagte Gleiwitz . Er war in Gedanken noch bei Schnabels Frau, dieser stillen Person mit den tiefen Augen, die er gern traf und gern häufiger getroffen hätte. Nicht um sie zu berühren oder auch nur mit ihr zu sprechen. Er sah sie einfach gern an und hielt sich gern in ihrer Nähe auf. Deshalb spielte er mit dem Gedanken, die Kekse, die sie den Gästen auf den Tisch gestellt hatte, in Windeseile aufzuessen und um Nachschub zu bitten.
Schnabel setzte seine Besucher vom Gespräch mit der Witwe in Kenntnis und war nicht überrascht, dass alle von dem Spaziergang nach dem Stapellauf wussten. Schnabel fragte sich, wie groß eine Stadt sein musste, damit heikle Vorfälle die Chance hatten, unbeobachtet zu bleiben.
Dass er Rosländer kaufen wollte, verschwieg er nicht. Er hatte es auch in den Wochen vor dem Gespräch nicht für sich behalten. Jeder hatte damit gerechnet, es gab auch mehr als einen Kandidaten, der ein begehrliches Auge auf Rosländers Besitztümer geworfen hatte. Aber nur zwei besaßen die Potenz, einen Kauf zu stemmen, ohne das eigene Haus zu gefährden.
»Um kurz zusammenzufassen«, sagte Distelkamp, »Ihr bietet Anna die Übernahme an, sie bittet um Bedenkzeit, eine Woche später fängt sie an, das Schiff zu bauen. Habe ich das zutreffend zusammengefasst?«
Er fasste stets richtig zusammen, er fasste für sein Leben gern zusammen.
»Warum tut sie das?«, fragte Distelkamp. »Will sie Euch reizen?«
»Warum sollte sie mich reizen?«
»Weil sie Euch nicht leiden kann. Weil sie nach einer Gelegenheit sucht, es Euch heimzuzahlen. Und jetzt ist die Gelegenheit gekommen.«
Deshalb lud man diesen Mann ein. Er besaß die Unverfrorenheit, Dinge auszusprechen, vor denen gut erzogene Menschen zurückschreckten.
Schnabel war mit Rosländer nicht gut ausgekommen. Rosländer hatte jeden übervorteilt, Bankiers, Handwerker, Auftraggeber. Man hatte nie gewusst, was bei Rosländer Vorsatz gewesen war und was normale Rücksichtslosigkeit. Ein Kaufmann musste seinen Vorteil im Auge behalten. Allerdings war dieser egoistische Ansatz bei den meisten durch Erziehung und Zurückhaltung gemäßigt gewesen. Rosländer schlug immer gleich auf den Tisch. Nicht mit der Faust, er bevorzugte es, die flache Hand zu nehmen. Das klatschte lauter und erschreckte mehr.
Rosländer war auch körperlich mit Kaufleuten aneinandergeraten . Nicht mit Schnabel, nicht mit Ratsherren, aber mit Handwerkern prügelte er sich regelmäßig und mit einfachen Gesellen noch viel lieber. Meistens hatte er den Sieg davongetragen, aber nicht immer. Das gab Rosländer nicht zu denken, er nahm so schnell nichts krumm. Ein zweiter Kampf klärte die offene Rechnung, zur Not ein dritter. Mit Bodeck, dem Schmied, hatte er sich viermal am Hafen getroffen. Hinterher hatten sie sich jedes Mal gemeinsam betrunken und einmal früh morgens um sieben in einem weiteren Kampf geklärt, wer das Recht hatte, die Zeche zu übernehmen.
Schnabel wusste, dass er einen Kampf mit Rosländer nicht überlebt hätte. Dennoch hatte er sich nicht vor ihm gefürchtet. Rosländer mochte ein wilder Stier gewesen sein, aber er war nicht dumm. Ihm war klar gewesen, dass der Tag, an dem er einen bekannten Lübecker geschlagen hätte, das Ende seines Unternehmens bedeutet hätte. Die Lübecker konnten Langmut aufbringen, sie ließen sich aber nicht auf der Nase herumtanzen.
»Warum tut die Frau das?«
An dieser Frage arbeiteten sich die Männer stundenlang ab. Es gab private Kontakte, natürlich gab es die. Alles lief über Frauen – Ehefrauen, Freundinnen, Frauen von Kollegen, Mägde, Näherinnen und Marktweiber, bei denen beide Seiten Kunden waren. Einiges lief auch über Hebammen.
»Ich habe mit der Deichmann geredet«, berichtete Distelkamp.
»Gibt es eigentlich jemanden, mit dem Ihr nicht redet?«, fragte Gleiwitz spitz.
»Wie war gleich noch mal der Name von dem gut aussehenden Kerl mit den zwei Hörnern? Er soll einen Pferdefuß haben.«
So war der Theologe Distelkamp. Traf sich an einem Tag mit
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