Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Jede Epidemie füllte die Friedhöfe und Gottesdienste. Es dauerte kein Jahr, bis die Menschen zu vergessen begannen. 20 Jahre später folgte die nächste Epidemie. Erneut Heulen und Zähneklappern, Sterben, Beten, Vergessen, 20 Jahre später die nächste Epidemie …
»Ihr versteht mich schon«, hatte Ebel an jenem Nachmittag gesagt, »es ist, als gäbe es einen Fluch, der uns verbietet, die Krankheit in ihrem Innersten zu erkennen. Aber wer anders verbietet es uns als wir selbst? Warum trauen wir uns so wenig zu? Ist es nicht erstrebenswert, das eigene Kind nicht sterben zu sehen? Wie wichtig ist es mir, wenn meine Frau nicht blind wird und mein Knecht keine gekrümmten Hände zurückbehält? Warum findet Fortschritt nur bei den Kaufleuten statt, die ihre Geschäfte auf weite Entfernungen mit Krediten und Wechseln und den neuen Banken betreiben? Warum helfen uns die Protestanten nicht, die vor 100 Jahren angetreten sind, das Unwissen zu beenden und ein Bild des Menschen zu prägen, vor dem sich der Schöpfer nicht schamvoll abwendet?«
»Der Mensch ist träge«, hatte Schnabel damals entgegnet. »Er ist faul und verfressen, und die wenigen, die anders sind, werden nie so zahlreich sein, dem großen Dösen Paroli bieten zu können.«
Schnabel hatte sich auf ein Streitgespräch mit dem Arzt eingelassen, denn damals war auch Schnabel von einem Geist erfüllt gewesen, der sich nicht abfinden wollte, der aufbrechen wollte zu neuen Ufern, der mehr sein wollte als der vierte Spross im Stammbaum der Sippe, der Schiffe mit Ladung füllte und dafür sorgte, dass sie die Rückreise nicht leer antraten. Im Füllen von Laderaum übertraf niemand den Reeder Schnabel. Jahrelang war er darauf stolz gewesen. Mittlerweile sah er die Dinge nüchterner. Er tat, was getan werden musste, damit sich das große Rad drehte. Hätte er es nicht getan, würde es ein anderer tun. Nicht der Mensch Schnabel und sein schlagendes Herz waren wichtig. Wichtig war, dass die Arbeit getan wurde. Das war nicht wenig, aber es hatte Zeiten gegeben, in denen er sich wertvoller vorgekommen war.
»Was ist mit dir, mein Lieber?«
Verdutzt starrte er die Frau an, die seit Jahren in seinem Haus lebte und behauptete, von ihm geheiratet worden zu sein. Fürchtete er sich davor, allein zu leben? Hatte er geheiratet, weil jeder Mann heiratete? Die wenigen, die darauf verzichteten, waren Käuze und Hagestolze, und einige von ihnen hüteten ein Geheimnis, das sie in früheren Zeiten den Hals gekostet hätte, weil es abartig und widerlich war.
Vor vier Jahren war es dann passiert: Die Pest war nach Lübeck gekommen und hatte reiche Ernte eingefahren. Über 7.000 Menschen waren dahingerafft worden. Seitdem hatte die Stadt einen neuen Friedhof. Und auch damals war ein Phänomen aufgetreten, das Schnabel noch mehr ängstigte als alles andere. Bei keiner Gruppe der Bevölkerung gab es so viele Opfer zu verzeichnen wie bei den Ratsherren. Fast jeder Dritte hatte die Heimsuchung nicht überlebt. Gut, dadurch waren Positionen vakant gewesen, sie wurden von nachrückenden Kräften besetzt, die in manchem Fall eine deutliche Verbesserung des Niveaus bedeuteten. Dennoch … dennoch …
»Die Krankheit richtet sich nicht gegen dich«, behauptete Schnabels Frau. Sie las im Gesicht ihres Mannes wie in einem offenen Buch. Noch ein Grund, sich vor ihr in acht zu nehmen.
»Was starrst du mich so an?«, fragte sie unsicher.
»Es ist nichts«, behauptete er. Die Wahrheit konnte er ihr nicht sagen, dafür hätte er sich stundenlang erklären müssen. Aber es war so, dass die Frauen Ähnlichkeit mit Hexen besaßen. Alle Frauen! Manche mehr und manche weniger, aber jede ein wenig. Hexen waren aus ihrem Geschlecht modelliert, Hexen waren nicht außergewöhnlich. Nicht nur alte Frauen und Hebammen trugen ihr Blut, jede Frau tat es. Der Mensch musste nur kein Mann sein, schon war er eine halbe Hexe. Schnabel dachte: Wir dürfen sie uns nicht zum Feind machen, sie können uns töten. Aber sie wissen es nicht. Und dürfen es nie erfahren.
Er wusste nicht, was die Frauen davon abhielt, das Bewusstsein ihrer Stärke zu entwickeln und gegen die Männer zu richten. Und wenn es die Hexen waren!? Wenn die Hexen die Beschützer der Männer waren!? Wenn die Hexen das Bollwerk darstellten? Wenn sie die Frauen beherrschten, weil sie die Frauen am besten kannten? Wenn die Hexen es waren, die die Ordnung aufrecht hielten und sich der Männer nur bedienten, weil Männer am besten
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