Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
geeignet waren, die anfallenden Arbeiten zu erledigen?
Schnabel nahm sich vor, die Angelegenheit bei nächster Gelegenheit mit dem Bischof zu besprechen. Aber erst musste die Pest besiegt werden. Denn dass sie am Ende unterliegen würde, daran gab es keinen Zweifel. Die Geschichte kannte keinen einzigen Fall, in dem die Pest gekommen und geblieben war. Die Pest kam und ging wieder, sie nahm viele Opfer mit, aber es gab auch viele Menschen. Und man durfte vor lauter Kummer nicht die Augen vor der Wahrheit verschließen: Um viele Opfer war es nicht schade. Niemand hatte jemals behauptet, dass alle Menschen gleich viel wert waren! Das wäre auch ein schlechter Witz gewesen. Nein, es gab wertvolle Menschen, Ratsherren, Pastoren, Kaufleute vor allem. Es gab nicht ganz so wertvolle Menschen: die Frauen von Kaufleuten und Ratsherren. Und es gab den großen Rest. Natürlich war ein Gastwirt mehr wert als ein Landstreicher. Aber der Unterschied zwischen den beiden war geringer als der zwischen dem Gastwirt und einem Ratsherrn. Da biss die Maus keinen Faden ab. Die Pest, so schrecklich sie war, hatte auch ihre guten Seiten, indem sie die Erde von nutzlosen Menschen säuberte. Hinter der Pest steckte ein Plan, manche Predigt von den Kanzeln handelte von diesem Plan und wie sinnlos es sei, sich dagegen aufzulehnen.
Aber diesmal hatte sich die Pest den falschen Ort ausgesucht! Diesmal war etwas schiefgegangen .
»Ich muss los«, sagte Schnabel.
25
Auf dem Markt tanzte der Tod. Er bestand aus nichts als Knochen, die hin- und herschlenkerten. Der Musicus an der Seite schlug zwei echte Knochen aus dem menschlichen Oberschenkel gegeneinander, durch die Geräusche klang der Tanz des Knochenmanns bedrückend und wahr. Die Zahl der Zuschauer nahm zu, Kreuze wurden geschlagen und betretene Mienen zur Schau getragen. Ratsherr Schnabel wischte den Bettler zur Seite, der zahnlos grinsend die schorfige Hand ausstreckte. Im nächsten Moment stand er dem Vogelmann gegenüber. Der drosch mit seinem Stock auf den Ratsherrn ein und rief: »Er gefällt mir nicht! Er ist so reizbar!«
Schnabel eilte davon, das Gelächter verfolgte ihn noch lange. Knapp nahm er die Hausecke und prallte mit einer Frau zusammen. Sie trug ein Kind, das hustete. Rotz lief aus der Nase, schmutzig war es sowieso.
»Was bildet Ihr Euch ein!«, herrschte Schnabel die erschreckte Frau an. »Sperrt gefälligst Eure Brut weg! Glaubt Ihr, ich bin erpicht darauf, mich von Euch anstecken zu lassen!«
»Aber er hat doch nicht … er ist doch nur …«
»Spart Euch die Mühe! Ich weiß, wie die Pest aussieht!«
H
Alle in der Runde wussten das. Dennoch mussten sie die quälend ausführliche Darstellung des Ratsherrn Voigt über sich ergehen lassen, bevor sie zum Eigentlichen kommen konnten. Fieber und Schüttelfrost ohne Ankündigung, Sehstörungen, Denkstörungen, danach alles zusammen: Verdauungsbeschwerden, Atemnot, rasendes, später stolperndes Herz, unter der Haut werden Knoten spürbar, die wachsen und bluten. Schneller körperlicher Verfall und Tod, alles im Verlauf weniger Tage.
»Es ist gut, Voigt«, stöhnte ein Mann in der Runde.
»Es kann nicht oft genug gesagt werden«, behauptete Voigt. »Ich war an der Pest erkrankt, ich weiß, wovon ich rede.«
Melchior Voigt hatte auf den Tod darniedergelegen und war auf wundersame Weise gerettet worden. Seitdem schwor er auf Branntwein, denn in seiner Todesangst hatte er seinerzeit begonnen, sich besinnungslos zu betrinken, um das Denken auszuschalten. Das war ihm gelungen, Voigt war zusammengebrochen, war aus dem Haus getaumelt, hatte sich im Wald wiedergefunden , war fast in einem Bach ersoffen, hatte mit einem Wolf gekämpft, hatte die Engel gesehen, und als er erwachte, nach mehr als zehn Tagen, an die er keine Erinnerung besaß, war der kleine Mann, nur noch Haut und Knochen, geheilt gewesen.
»Macht nicht so ein Gewese «, knurrte Schnabel. »Ihr seid der eine, der die Pest überlebt. Solche hat es immer gegeben. Ihr seid so dünn, die Pest hat geglaubt, Ihr seid schon tot. Es war ein Irrtum, dem Ihr Euer Leben verdankt.«
»Ich werde aufhören zu essen«, kündigte Voigt an. »Schmal sein, ist von Vorteil. Das Licht trifft dich nicht und glaubt, du bist nicht da.«
»Lasst uns zum Thema kommen!«, bat händeringend der Theologe Distelkamp. Er litt, wenn er in eine Runde geriet, in der Wissen, Angst und kruder Volksglauben eine unheilvolle Verbindung eingingen. Er litt doppelt, wenn diese
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