Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Lübecker in ihrem Unglück allein lassen würde.
Was ein Pestkranker berührt hatte, durfte von keinem Gesunden berührt werden, damit war jeder Zentimeter der Werft bis auf Weiteres tabu.
Die alte Schlüter, gestählt von Jahrzehnten schlimmster Epidemien, war freiwillig auf das Gelände gegangen, um dem kranken Seemann beizustehen. Als die Nachricht die Runde machte, dass sich eine Bürgerin auf der Werft befand, hatte die alte Frau längst ihren Schreck überwunden, als sie unerwartet einem weiteren Mann gegenübergestanden hatte. Querner , aus tiefem Schlaf geschreckt, hörte, was geschehen war und wollte sofort die Werft verlassen. Mit vorgestreckten Lanzen trieben ihn die Wachen zurück und drohten, auf ihn zu schießen, wenn er sich nicht unsichtbar machen würde. Querner zog sich zurück, schockiert erst und nachdenklich. Leider konnte es sich eine der Wachen dann nicht verkneifen, höhnische Bemerkungen aufs Gelände zu rufen. »Wir werden Euch rösten!« hieß es, und »Einmauern werden wir Euch!«
Querner schnappte sich ein handliches Plankenstück und schlug dem Rufer das Gesicht flach. Der verlor seine Nase und auch das Bewusstsein. Es kam zu einer Schlägerei, Schüsse fielen, mit einer Kugel im Bein schleppte sich Querner in Sicherheit.
Die alte Schlüter versorgte ihn. Sie war eine seltsame Frau, klein, stämmig, schweigsam und ungeheuer fleißig. Die Frau musste etwas zu tun haben. Untätigkeit vertrug sie nicht.
Ein Verschlag wurde Querners Krankenzimmer, der schwedische Seemann lag dort, wo die Hölzer gestapelt waren. Querner war verboten worden, Kontakt zu ihm aufzunehmen, aber er wusste, dass er sich längst angesteckt hatte. So hinkte er auf den Krücken, die er sich gebaut hatte, zu dem Schweden. Der wirkte mitgenommen, war aber ansprechbar. Er verstand deutsch besser als er es sprach. Eine Verständigung kam dennoch zustande, sie wurde mit reichlich dänischen Zutaten ausgetragen, diese Sprache beherrschten beide Männer. Auch die alte Schlüter beteiligte sich am dänischen Palaver.
23
Sybille Pieper regte sich nicht schnell auf. Aber wenn, dann richtig.
»Das ist mir zu viel Zufall«, sagte sie, als sie mit Trine Deichmann vor ihrer Hütte saß. Im Osten lag Lübeck, hier war, gleich hinter dem Garten, nichts als Natur. Schräg rechts lag Urwald, schräg links das Moor. Die Kutsche vor der Hütte war gepflegt und gewienert, alles andere war windschief und gezeichnet von jahrelanger Vernachlässigung.
»Mir kann keiner vorwerfen, dass ich nur das glaube, was ich sehe«, fuhr die Kräuterfrau fort. »Aber das passt einigen Leuten einfach zu gut in den Kram. Findet Ihr das nicht auch?«
»Ich finde vor allem, dass es, wenn es ausgedacht ist, gut ausgedacht ist. Die Pest! Da hört doch jeder auf zu denken, da hat doch jeder nur noch Angst.«
»Ich kaue Baumrinde dagegen. Mir kann keiner.«
Trine behielt ihre Zweifel für sich. Sie war herausgefahren, um sich mit den Frauen zu besprechen. Die nächsten Stunden würden nicht nur über die Zukunft des Schiffs entscheiden, sondern über die gesamte Werft. Und damit über Anna Rosländer.
Hedwig Wittmer hatte die Kutsche zur Verfügung gestellt, nicht zum ersten Mal. Der blutjunge Kutscher hatte Trine schon mehrfach chauffiert. Er steckte im Wald und fraß sich an Blaubeeren satt.
Trine berichtete vom alten Ebel , dem früheren Stadtarzt. Er übte das Amt nicht mehr aus, aber im Ruhestand lebte Ebel nicht, konnte es gar nicht, so vital, wie er sich fühlte. Seine Kenntnisse kamen dem Krankenhaus und dem Siechenhaus zugute. Er schaute auch bei den Waisen vorbei, wenn sich die regulär mit dieser Aufgabe betrauten Ärzte zierten, weil sie es für unter ihrer Würde hielten, schmutzige Kinder zu untersuchen. Bei den Waisen ging es so: Waren sie stark genug, würden sie auch Krankheiten überleben. Waren sie zu schwach, machten sie Platz für eine neue Waise.
Ebel hatte bestätigt, wie gefährlich ein Pestausbruch war und dass nichts daran verdächtig war, wenn er sich im Hafen ereignete. Dies war der wahrscheinlichste Ort. Er wollte sich den Schweden ansehen, obwohl Trine ihn warnte, sich in Gefahr zu begeben. Sie befürchtete, der Körper des alten Mannes könne nicht widerstandsfähig genug sein, um die Begegnung mit den gefährlichen Krankheitserregern zu überstehen.
Gemeinsam trugen die Frauen zusammen, was sich um den schwedischen Seemann ereignet hatte. Er konnte sich auf dem Schiff oder im Osten angesteckt haben. Zuletzt hatte
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