Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
waren feige Tiere, deshalb mochte Vierhaus sie gern. Sie waren so menschlich. Senftenberg lag schlafend auf der gegenüberliegenden Bank, eingedreht in seine Jacke. Nachts wurde es nicht kalt, und die warme Antje stand ja zur Verfügung, um …
Wo war Antje?
Jetzt ging alles schnell. Vierhaus steckte den Kopf aus dem Fenster. Mehrere Schemen machten sich an der zweiten Kutsche zu schaffen. »Heda! Was denkt Ihr Euch dabei!«, rief Vierhaus. Ein Schuss knallte, neben Vierhaus wurde es heiß. Er dachte: Sie schießen auf dich. Nie im Leben hatte jemand auf Vierhaus geschossen, nie im Leben hatte er sich geprügelt, in keine einzige Wirtshausschlägerei war er verwickelt worden. Er hatte immer alles mit dem Verstand gemacht: arbeiten, die Gattin wählen, ausweichen, Finten schlagen, sich mit dem zweitbesten Geschäft zufriedengeben , die Konkurrenten nicht bis zur Weißglut reizen. Hippolyt Vierhaus hatte sein Leben im Windschatten verbracht und war damit zufrieden gewesen. Ein Fehler hatte gereicht, um seine Frau zu verjagen. Ein zweiter Fehler hatte ihm nach der Frau die Heimat genommen. Vierhaus war bereit, sich viel bieten zu lassen. Aber er war nicht bereit, sich beschießen zu lassen. Während Senftenberg neben ihm sich aufgeregt sortierte, verließ Vierhaus die Kutsche und ging auf die zweite Kutsche zu, seine eigene, die 20 Schritte weiter vorne stand.
»Bleibt stehen oder ich schieße!«, rief eine männliche Stimme. Bevor Vierhaus reagieren konnte, ging der Schuss los. Auch er traf nicht. Die Gestalten, drei waren es, Antje war dabei, sprangen in die Kutsche. Sie wollten fliehen. Jetzt kam Bewegung in Vierhaus. Er machte kehrt, lief auf Senftenbergs Kutsche zu, freute sich, dass sie gestern nicht daran gedacht hatten, die Pferde auszuspannen. Er sprang auf den Bock wie ein junger Mann. Senftenberg rief: »Was habt Ihr vor? Das könnt Ihr nicht machen! Sie werden uns totschießen!«
»Sie treffen ja nie«, knurrte Vierhaus, schnalzte, gab die Peitsche, die Pferde schossen davon, als würden sie den Kutscher seit Langem kennen. Etwas war mit Vierhaus passiert. Während der Wagen den Weg mit den tief hängenden Zweigen entlangrollte , spürte er, wie er ruhig wurde. Jeder Handgriff saß, die Pferde parierten, er ließ ihnen soviel Zügel, wie sie brauchten, der Abstand zur fliehenden Kutsche wurde nicht größer.
Die Hatz führte in den jungen Morgen hinein. Es ging Richtung Osten, aber Vierhaus hatte vorher nicht gewusst, wo er sich aufhielt und wusste es jetzt nicht. Hinter ihm zeterte Senftenberg und wollte wissen, wo Antje geblieben war. Jetzt war nicht die Zeit, um zu reden. Jetzt war die Zeit, um Dinge richtigzustellen . Um Banditen zu zeigen, was ging und was nicht ging. In Hippolyt Vierhaus kehrte eine unheimliche Ruhe ein. Er war entschlossen und zielstrebig, erlaubte sich keinen einzigen Gedanken, mit dem er sich nur gehemmt hätte. Eins nach dem anderen. Erst die Banditen zur Rechenschaft ziehen, danach reden. Genau so.
Der Weg war von beiden Seiten mit Hecken und jungen Bäumen zugewachsen. Wie breit er im Frühjahr auch gewesen sein mochte, jetzt war gerade noch Platz für eine Kutsche. Vorne trieben sie schreiend die gestohlenen Pferde an, Vierhaus sagte keinen Ton. Er saß locker, seine Arme waren locker, einmal bewegte er seinen Kopf hin und her, um auch ihn zu lockern. Senftenberg gab endlich Ruhe, die grünen Hecken wichen zurück, Felder schlossen an, danach ein Waldstück, hier hatte es kürzlich gebrannt, es roch noch danach, und die fliehende Kutsche kam einfach nicht weg.
Vierhaus wusste, dass er sein Eigentum verfolgte. Aber das war nicht der Grund, warum er tat, was er tat. Es musste erledigt werden, und er musste es tun, weil es keinen anderen gab. Die Welt war voller Räuber, außerhalb der Lübecker Mauern herrschte das Gesetz des Stärkeren. Vierhaus war kein dummer Mann, natürlich wusste er, dass die Spielregeln innerhalb der Mauern starke Ähnlichkeit mit dem aufwiesen, was sich hier draußen ereignete. Aber in den Mauern hatte er bisher selbst zu den Stärkeren gehört; innerhalb der Mauern waren die Verhältnisse so weit kultiviert, dass es ohne körperliche Gewalt und Schüsse abging. Dort machte man Beute mit kaufmännischer Buchführung. Dort wurden die verfolgt, die nichts besaßen und nicht die Reichen. Das war gerecht und machte viel mehr Freude. Aber das hier draußen hatte auch was!
Hippolyt Vierhaus, so beherrscht er war, spürte, dass er im Begriff stand,
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