Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
etwas Großes zu leisten. In Lübeck hatte ihn niemand mehr haben wollen. Einsam war es um ihn geworden, die meisten Freunde wollten künftig die Freunde seiner Frau sein. Dabei war er der Kaufmann Vierhaus, handelte mit Fellen, zog die Lübecker Frauen an; mit seinen Pelzen schmückten sie sich; unattraktive Plumpsäcke, tranig und dickhalsig, nur mithilfe eines Vierhaus-Pelzes hatten sie den Schritt vom Hausmütterchen in die Salons geschafft. Selbst Frau Vierhaus hatte in harmonischen Zeiten zugegeben, dass ihr Hippolyt ein Händchen für Frauen besaß. Er konnte Frauen anziehen. Wie gerne hätte er zwischendurch auch eine ausgezogen, aber in den Zeiten der Harmonie war er mit seiner Frau glücklich gewesen; und die Hebamme Deichmann hatte ihnen bestätigt, dass sie sich ihrer Wünsche nicht zu schämen brauchten. Dabei rückte Hippolyt im ehelichen Schlafgemach mit Wünschen heraus, die seine Frau sehr nachdenklich gemacht hatten.
Hippolyt Vierhaus war ein Mann, mit dem man rechnen musste, bis er in ein tiefes Loch fiel, aus dem er mit eigener Kraft nicht mehr herausfand. Er hatte sich damit abgefunden, den Rest seines Lebens am Rande zu stehen. Jetzt war er den Kutschendieben dankbar. Sie hatten sich mit dem Falschen angelegt, in Vierhaus floss noch Blut. So leicht gab er sich nicht geschlagen. Man konnte nicht ankommen und ihm seine Habe wegnehmen.
»Ich kriege euch«, rief er in den rauschenden Fahrtwind. Kühl war es, aber die Kühle weckte seine Lebensgeister. Zum ersten Mal setzte er die Peitsche ein. Er würde die Banditen jetzt einholen, überholen, stellen. Er würde ihnen fortnehmen, was ihnen nicht gehörte, und wenn sie sein Eigentum nicht freiwillig herausrückten, würde er ihnen wehtun. Er würde ihnen auch Antje wegnehmen; dass sie freiwillig mitgegangen war, wusste er schon. Er freute sich darauf, sie zu bestrafen, aber er würde ihr die Gelegenheit geben, ihren Fehler wiedergutzumachen – jeden Tag und an manchen Tagen auch zweimal.
Die Peitsche knallte, die Pferde gehorchten, der Abstand zur fliehenden Kutsche nahm ab. Vierhaus stieß einen Schrei aus.
Der Wald kam überraschend. Es wurde dunkel, fast wieder Nacht. Nur ein kleines Stück an beiden Seiten, die Bäume verabschiedeten sich gleich wieder, aber in diesen wenigen Sekunden war die Sonne hervorgekommen, die Kutschen fuhren in gleißende Helligkeit hinein. Die Augen brauchten einen Moment, um sich zu gewöhnen, auch die Augen der Tiere, und das Fuhrwerk, das ihnen hinter der Kurve entgegenkam, war so breit wie der Weg. Der überraschte Kutscher verriss die Zügel, die Pferde wandten sich nach links, die erste Kutsche schaffte es, heil hindurchzukommen , weil der Kutscher nicht den Fehler beging, das Tempo zu verringern. Einen Wimpernschlag hinter der Kutsche schlossen die Pferde des Fuhrwerks den Weg wie mit einem Schlagbaum. Hippolyt Vierhaus, Höllenkutscher aus frisch erwachter Neigung, sah, was passieren musste und lenkte darauf zu. Er schrie erneut. Alle, die man später befragte, äußerten übereinstimmend den Eindruck, dass es kein Schrei der Angst war, sondern der Begeisterung, so unfassbar das sein mochte. Die Vierhaus-Kutsche traf das entgegenkommende Fuhrwerk zwischen Pferden und Deichsel. Vier Tiere verkeilten sich unheilvoll. Beinknochen brachen, innere Organe wurden verschoben, stauten sich und platzten. Der fremde Kutscher hechtete nach rechts, landete im Graben, machte sich nass, lebte. Vierhaus flog wie ein schwerer Vogel. Der Aufprall seiner Kutsche ließ ihn abheben, während er flog, blickte er sich um, ohne Angst auch dies, stattdessen Überraschung. Es war nicht so, dass er gelacht hätte. Aber sein Gesicht war das eines Mannes, dem etwas Neues bevorstand. Er hatte sich das nicht gewünscht und es nicht vorsätzlich herbeigeführt. Aber da nun nach Lage der Dinge nichts an dem Ablauf zu ändern sein würde, wollte er kein Spielverderber sein und war gespannt, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden. Es war doch noch nicht alles verloren, er würde in seinem Leben doch noch etwas Neues erleben.
Zuerst erlebte er, dass krummes Holz, in seiner Welt der Inbegriff minderwertiger Ware, für ein bestimmtes Gewerbe sehr begehrt war: für den Schiffbau. Da es kein Mittel gab, Holz so zu bearbeiten, dass es künstlich gebogen werden konnte, war der Schiffbau, vor allem für den Bau sehr großer Schiffe darauf angewiesen, Hölzer zu suchen, die von Natur aus krumm gewachsen waren. Diese Hölzer erhöhten die
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