Die Äbtissin
sich in ihm ereignen, um aus möglichen Fehlern zu lernen, und damit dies als Leitfaden dienen möge…«
Sie wagte es nicht, weiterzulesen. Sie kannte die Handschrift der Frau genau, die während langer Jahre ihre Lehrerin gewesen war. Die saubere, feste Linienführung mit einem waagerechten Strich unter jedem Großbuchstaben und dem verschnörkelten Ypsilon.
Es ist nicht rechtens, dachte sie. Sie ist tot, und das Schriftstück gehört mir nicht.
Der Gedanke überzeugte sie nicht. Was hatte dieses Schriftstück hier zu suchen? Doña Elvira musste einen Grund gehabt haben, es in Madrigal zurückzulassen, als sie zur Ordensoberin ernannt wurde. Möglicherweise hatte sie es vergessen, aber es konnte sich auch lediglich um Anweisungen und Ratschläge zur Verwaltung des Klosters handeln. Sie beschloss, es zu lesen. Sei es, wie es sei, hier saß sie mit etwas, das ihrer geliebten Freundin gehört hatte. Doña Elvira hatte diese Blätter mit eigener Hand beschrieben, und in gewisser Weise lebte sie in ihnen fort. Sie vergaß das Angelus und vertiefte sich in die Lektüre.
Die Zeit verging rasch, während sie las. Doña Elvira hatte minutiös die Ereignisse im Kloster festgehalten, einige davon wichtig, andere weniger. Es war keine Chronik, es waren schlicht die Notizen einer Frau, die um das Wohlergehen des Unternehmens besorgt war, das man ihr anvertraut hatte. Ihr Ansinnen war es, Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen für den Fall, dass man dies von ihr verlangte: Es ging um wirtschaftliche und personelle Angelegenheiten, Besuche bedeutender Persönlichkeiten, Eintritte von Schwestern und Sterbefälle, Krankheiten, Arzneien, das Ziehen von Blumen und Gemüsen, Kommentare, Gedanken… ein Gemisch der unterschiedlichsten Ereignisse, mit der leichten, ironischen Feder niedergeschrieben, an die sich María erinnerte. Sie lächelte.
Ein zaghaftes Klopfen unterbrach sie in ihrer Lektüre. Joaquina steckte den Kopf durch die Tür.
»Fühlt Ihr Euch wohl, Doña María?«, fragte die Nonne.
»Bestens, Joaquina«, antwortete die Äbtissin mit einem Lächeln. »Ich habe mich lange nicht mehr so gut gefühlt. Ist etwas vorgefallen?«
»Nein… nun ja…« Joaquina wirkte verwirrt. »Euer Gnaden waren nicht beim Angelus zugegen, und ich fragte mich… wir fragten uns, ob Euch etwas fehlt.«
María stand auf und ging zur Tür.
»Mir fehlt nichts, Joaquina«, sagte sie. »Ich war so in die Lektüre vertieft, dass die Stunden dahinflogen, ohne dass ich es bemerkte. Es tut mir Leid.«
Sie fühlte sich verpflichtet, sich für die Sorge zu entschuldigen, die sie verursacht hatte. Die Pförtnerin, stets bereit, ihr zu Diensten zu sein und ihren Wünschen zu willfahren, lächelte beruhigt und María erwiderte das Lächeln. Der Essensgeruch drang bis zu ihnen.
»Das Essen! Ich müsste schon längst im Refektorium sein. Entschuldigt mich, Euer Gnaden!«, rief Joaquina aus und rannte aufgeschreckt davon wie ein Knabe, den man beim Äpfelstehlen ertappt hat.
María konnte ein vergnügtes Lachen nicht unterdrücken, sie schloss die Tür der Studierstube hinter sich und machte sich auf den Weg zum Refektorium. Sie brannte darauf, weiter in dem kostbaren Manuskript zu lesen, das ihr ein wenig von der geliebten Frau zurückbrachte, die es geschrieben hatte, aber sie durfte nicht beim Essen fehlen. Ein erneutes Fehlen bei den gemeinschaftlichen Anlässen konnte Anlass zu Gerede geben und für Unmut unter den Schwestern sorgen. Das wollte sie verhindern, und außerdem war sie hungrig.
Als sie in ihr Studierzimmer zurückkehren konnte, zog sie den Stuhl ans offene Fenster, durch das eine leichte Brise und der Geruch nach frisch gemähtem Gras von den umliegenden Feldern strömten, und begann weiterzulesen. Doña Elvira hatte die Ereignisse jedes Jahres seit 1480 niedergeschrieben. María hatte keine Eile, obwohl sie wusste, dass auf diesen Seiten etwas stehen musste, das mit ihr zu tun hatte. Sie las langsam und genoss jede Anmerkung und jeden Kommentar. Schließlich gelangte sie zu einem Datum, Annus Domini 1483, am zwölften Tag des Monats September. Nach einigen Bemerkungen über die Arbeit der Maurer, die ein Stück der Außenmauer ausbesserten, das mit der Zeit gelitten hatte, hatte Doña Elvira geschrieben:
»Vor zwei Tagen wurde uns ein weiteres Mädchen gebracht. Die Kleine ist sechs oder sieben Jahre alt. Sie ist zart, wirkt aber groß für ihr Alter. Ihre Haut ist weiß und ihr Haar schwarz und kurz geschnitten wie bei
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