Die Äbtissin
einem Mönch. Sie befindet sich bei guter Gesundheit, aber sie will nicht essen und weint unaufhörlich. Wir wissen nicht, woher sie stammt, noch verstehen wir die Sprache, die sie spricht. Sie wurde auf Befehl der Königin, unserer Regentin Doña Isabella, von einigen bewaffneten Männern hergebracht, und ihrer schmutzigen, müden Erscheinung nach zu urteilen schienen sie von weither zu kommen.«
Es folgten einige Anmerkungen, die daran erinnerten, dass mit dem Abernten der Apfelbäume begonnen werden musste. María las noch einmal den Abschnitt, der sie betraf. Er brachte nicht viel Klarheit, aber sie spürte, dass sie allmählich den Weg fand, den sie verfolgen musste. Fürs Erste wusste sie nun, dass sie bei ihrer Ankunft im Kloster kein Kastilisch gesprochen hatte. Vielleicht war es Aragonesisch, sagte sie sich, schließlich stammte der König von dort, und es war unwahrscheinlich, dass man sie aus dem Ausland nach Madrigal gebracht hatte.
Als sie die Lektüre fortsetzen wollte, rief die Glocke zur None. Sie ließ das Schriftstück liegen und eilte zur Kapelle.
Nach dem Gebet konnte sie nicht wieder in die Studierstube zurückkehren, und der Nachmittag erschien ihr endlos lang. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um sich auf ihre Arbeit und sogar aufs Gebet zu konzentrieren. Die mit monotoner, eintöniger Stimme wiederholten Litaneien, in denen Gott, die Jungfrau und die nicht enden wollende Reihe von Heiligen angerufen wurden, erschienen ihr sinnlos und hohl. Der Herrgott musste sich außerordentlich langweilen, wenn er sie hörte. Sie war selbst erschrocken über diesen Gedanken, der gewiss als Ketzerei gegolten hätte, hätte sie es gewagt, ihn laut auszusprechen. Die Nachrichten vom Inquisitionseifer, von Verhaftungen, Folter und lodernden Scheiterhaufen in ganz Kastilien waren selbst bis zu einem so abgelegenen Ort wie Madrigal vorgedrungen. Es waren schlimme Zeiten. Die Bulle Papst Sixtus’ IV. vor dreißig Jahren auf Bitten der Könige ausgefertigt, um Scheinkonvertiten zu verfolgen, hatte ihre Tentakeln über das ganze Königreich ausgestreckt. Mittlerweile standen nicht länger nur die Scheinkonvertiten im Blickpunkt der Inquisitoren, ihr Eifer hatte sich auf alle Schichten und Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet. Ketzer und Gotteslästerer wurden ebenso erbittert verfolgt wie Poligamisten, Ehebrecher, Protestanten, Hexer und überhaupt jeder, der eine verdächtige oder spöttische Bemerkung über die katholische Kirche, ihr Dogma oder ihre Stellvertreter machte. Vor kurzem war in Madrigal ein Mann verhaftet worden, weil er laut gesagt hatte, dass ein Mann und eine Frau nicht verheiratet sein müssten, um miteinander ins Bett zu gehen, und ein anderer, weil er den Priester einen Sohn Satans geziehen hatte. Von keinem der beiden hatte man je wieder gehört.
Bei dem bloßen Gedanken, sie könnte von den schwarz gekleideten Männern festgenommen werden, lief es María eiskalt den Rücken hinunter. Einmal hatte sie mit den Inquisitoren zu tun gehabt, als zwei von ihnen, Dominikanermönche, im Kloster Zuflucht für die Nacht gesucht hatten. Wie gewöhnlich kümmerten sich zwei Ordensfrauen um das Wohl der Reisenden, und bei jener Gelegenheit war sie eine von ihnen gewesen. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, doch María hatte die bohrenden Blicke der beiden Männer bemerkt, die jeden ihrer Schritte kontrollierten, während sie ihnen aufwartete. Sie waren von durchschnittlichem Äußeren, nicht besonders groß, die Köpfe zu einer Tonsur geschnitten, sodass nur ein Haarkranz stehen blieb. Ihre weiten Umhänge waren schmutzig und voller Flecken, vielleicht aufgrund einer langen Reise oder wegen mangelnder Hygiene. Sie kam zu dem Schluss, dass Zweiteres der Grund sein musste, denn sie hatten kein Gepäck dabei, und die Maulesel, auf denen sie gekommen waren, wirkten ausgeruht. Die Dominikaner suchten die Reinheit der Seele, nicht jene des Körpers, den sie als befleckte Hülle der verwerflichsten Sünden und Verkommenheit betrachteten. Die Jünger des heiligen Dominikus hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Feinde der einzigen und wahren Kirche zu entlarven. Auf der Suche nach dem Bösen irrten sie über die Straßen und verachteten die Mönche, die sich hinter Klostermauern zurückzogen, um ihrem eigenen Seelenheil zu frönen. Sie hingegen strebten nach der Bekehrung aller Sterblichen zum wahren Christentum, demjenigen Roms. Um ihrer selbst und aller ihrer Mitschwestern willen hatte María
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