Die Äbtissin
eigentümlich.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll…«, stotterte das Mädchen.
»Irgendetwas, einen Satz, einen Gruß, ein Gebet… irgendetwas.«
Inés dachte kurz nach. Dann lächelte sie, sah die Äbtissin an und stimmte ein Lied an:
Txoriak hegaz egiten du zuhaitzik zuhaitz. Amatxuk deitzen du haurra lo egitera.
Die Nonne sah durch das Mädchen hindurch. Sie verstand kein einziges Wort, und doch rief dieses Lied eine vergessene Erinnerung in einem Winkel ihres Gedächtnisses wach. Inés hielt es für nötig, eine Erklärung zu geben.
»Es ist eine kleine Weise, die die Mütter ihren Kindern vorsingen, damit sie schlafen.«
Als sie keine Antwort erhielt, wiederholte sie das Verslein. Die letzten Töne schwangen noch in der Luft, als die Äbtissin reagierte, selbst überrascht von dem Zittern in ihrer Stimme.
»Was bedeutet es?«, fragte sie. »Ich meine, worum geht es in diesem Lied?«
»Nun, es heißt so in etwa ›der Vogel fliegt von Baum zu Baum und die Mutter singt, damit das Kindchen schlaft‹. Meine Mutter hat es mir immer vorgesungen, als ich klein war, und sie hat es von meiner Großmutter gelernt. Ihr habt nichts verstanden, nicht wahr?«, fragte sie lachend. »Es heißt, das Baskische sei eine sehr alte Sprache, älter als Latein.«
María nahm das Tintenfass und die Feder, die auf dem Tisch standen, stellte sie vor das Mädchen und schob ihr ein Blatt Papier hin.
»Kannst du es aufschreiben?«, fragte sie. »Ich interessiere mich für alles, was neu für mich ist. Und du hattest völlig Recht, ich habe nichts verstanden.«
»Ja, ehrwürdige Mutter, das kann ich.« Inés lächelte freundlich. »Mein Vater wollte, dass ich sowohl in Kastilisch als auch in Baskisch lesen und schreiben lerne. Das ist nicht die Regel, denn unser Volk legt nicht viel Wert auf Bildung. Obwohl alle diese Sprache sprechen, können nur wenige sie lesen und schreiben, abgesehen von einigen Klerikern und Sekretären. Ich wurde von einem Bakkalaureus unterwiesen, der Unterricht erteilte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
Sie nahm behutsam die Feder, tauchte sie in das Tintenfass, schlug die Feder vorsichtig gegen den Rand des Glases und begann mit sicherer Hand zu schreiben. María beobachtete, wie die rechte Hand des Mädchens die Wörter formte und folgte wie hypnotisiert der Bewegung der Feder. Etwas an dem Lied kam ihr vertraut vor. Sie hätte geschworen, dass sie es noch nie gehört hatte, und doch war es ihr nicht unbekannt. Vielleicht hatte sie irgendwo einmal die Melodie gehört. Sie war einfach und eingängig; der Aufbau war ziemlich geläufig, volkstümlich und ohne Schnörkel, fast wie eine der Fingerübungen, die sie selbst über Jahre gemacht hatte. Nein. Da war noch mehr…
»Fertig! Ich habe das Lied in Baskisch niedergeschrieben und eine ungefähre Übersetzung ins Kastilische beigefügt, damit Ihr verstehen könnt, was dort steht. Man liest genauso, wie man schreibt.«
Inés’ klare Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah das Mädchen an, das unbefangen lächelte, und lächelte zurück.
»Ich bin sicher, dass wir uns sehr gut verstehen werden«, sagte sie überzeugt. »Ich habe immer geglaubt, dass ich einen sechsten Sinn habe, der mich nicht trügt. Unsere Zusammenarbeit wird große Früchte tragen.«
Die Glocke rief zur Terz. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und das Mädchen tat es ihr nach.
»Es ist Zeit, die Arbeit liegen zu lassen«, setzte sie hinzu, »und uns daran zu erinnern, dass der Herr uns in der Kapelle erwartet. Geh schon einmal vor, Tochter. Ich komme gleich nach.«
Inés machte einen kleinen Knicks und verließ die Studierstube. María nahm das Blatt und betrachtete die Schriftzüge:
Txoriak hegaz egiten du zuhaitzik zuhaitz. Amatxuk…
Sie hielt inne, die Augen auf dieses Wort, Amatxu, geheftet, und sie spürte, wie es ihr heiß und kalt den Rücken hinunterlief. Sie suchte die Übersetzung in den Zeilen darunter, aber noch bevor sie sie gelesen hatte, wusste sie, was es hieß:
Der Vogel fliegt von Baum zu Baum. Die Mutter…
Die Mutter… Ihr wurde schwindlig und sie musste sich auf den Tisch stützen. Es war der Name der Frau, die sie in ihren Träumen sah. Der Mann hatte sie gepackt, und sie schrie: Amatxu! Amatxu! Langsam legte sie das Blatt auf den Tisch und ging zur Tür. Das Mittagslicht flutete durch das offene Fenster und das Zimmer schien von einem Strahl der Hoffnung erhellt zu werden, der direkt in ihr Herz drang und es mit Freude
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