Die Äbtissin
Leder. Alles war erlesen gearbeitet und bewies den guten Geschmack des Besitzers. An einer der Wände hing ein Porträt Doña Isabellas und Don Ferdinands, daneben eines von Doña Johanna und ein kleineres des Kronprinzen Karl.
Ein Mann mit grauem Haar und grauem Bart erhob sich hinter dem Tisch, trat zu ihr und küsste ihre Hand.
»Seid willkommen, Doña María«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ihr habt gut daran getan, zu mir zu kommen. Sonst wäre die Mutter Oberin ungehalten gewesen und hätte einen Brief an meine Frau geschrieben, ihre Nichte, um uns mangelnde Gastfreundschaft vorzuhalten.«
»Ich möchte keinen Anlass zu Verstimmungen im Schoße Eurer Familie geben«, erwiderte María mit einem Lächeln, »doch ebenso wenig möchte ich Unannehmlichkeiten und Störungen verursachen.«
Dieser Mann, Don Luis de Mendoza, gefiel ihr. Sein Ton war liebenswürdig, bar aller Zweideutigkeiten oder Überheblichkeit, wie man sie bei hoch gestellten Persönlichkeiten vermutete. Sie unterhielten sich eine Weile, und María sah sich gezwungen, die Gastfreundschaft anzunehmen, die er ihr und ihren Begleitern in seinem Hause anbot. Mendoza rief einen seiner Bediensteten, damit er ihnen den Weg weise, und verabschiedete sich ebenso liebenswürdig von ihr, wie er sie empfangen hatte.
Inés und Joaquina erwarteten sie am selben Ort, an dem sie sie zurückgelassen hatte.
»Wisst Ihr was, Doña María?« Inés’ Augen strahlten. »Don Gonzalo ist auch von der Biskaya.«
»Na, das ist ja ein Zufall!… Und was macht ein Biskayer in diesen Gefilden?«
»Er möchte ein großer Soldat werden. Er ist ein nachgeborener Sohn aus einer Nebenlinie der mächtigen Familie Salazar. Unter diesen Voraussetzungen ist es schwierig, seinen Weg zu gehen – er konnte nur Soldat werden oder Priester.«
»Du hast viel über den Hauptmann erfahren in so kurzer Zeit.«
»Zu viel!«
Joaquina machte keinen Hehl aus ihrer Missbilligung. María lächelte und stellte sich vor, wie die gute Frau empört der Unterhaltung zwischen dem Soldaten und der jungen Novizin lauschte. Für sie lauerten die Versuchungen des Teufels hinter jeder Ecke, erst recht, wenn dieser die Gestalt eines gut aussehenden Jünglings wie Don Gonzalo annahm.
Als sie gerade gehen wollten, erfüllte ein lauter werdendes Raunen den Saal, gefolgt von ehrerbietigem Schweigen.
»Der König!«, hörten sie einen Mann sagen.
María erstarrte vor Schreck. Sie war unfähig, sich zu rühren. Ihr Blick war auf die Menschenmenge gerichtet, die sich vor ihr teilte wie das Rote Meer vor Moses, und dann sah sie ihn. Zwischen seinen Höflingen schreitend, grüßte er nach rechts und links. Es war nicht der stolze, hochmütige König, der von dem Bildnis herabsah, das im Refektorium des Klosters hing. Der Mann, der da unmittelbar auf sie zukam, war ein Greis mit unsicherem Gang. Sein spärliches Haar war ergraut und seine altersschwachen Augen nahmen kaum die Menschen wahr, die sich verbeugten, während er vorüberging. Einzig die Leibwache, die ihm einen Weg bahnte, und die reich verzierten Hosen, der weite Umhang, der ihm bis auf die Oberschenkel reichte, sein mit Perlen besetzter Kopfputz sowie die Unterwürfigkeit seiner Begleiter machten aus ihm den König, den alle sehen oder gar berühren wollten.
Als er auf Marías Höhe angelangt war, trafen sich ihre Blicke. Alles um sie herum verschwand. In dem riesigen Saal waren nur noch sie beide. Sie wollte ihn Vater nennen, diese schrecklichen Jahre vergessen, verzeihen. Für einen kurzen Augenblick, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, flackerte ein Leuchten in den schläfrigen Augen des Königs auf. Hatte er jemanden in ihr wieder erkannt? Ihre Mutter vielleicht? Sich selbst? Oder war es nur die Härte seines Blicks, die er in ihren Augen gespiegelt sah, die ihn überraschte? Sie würde es nie erfahren. Das Gefolge setzte seinen Weg fort, und dies würde das erste und vielleicht einzige Mal sein, dass sie dem Mann nahe war, der dem Sendbrief des Papstes zufolge ihr Vater war.
Aus der geplanten Übernachtung wurde dank Don Luis de Mendoza und seiner Gemahlin Leonor ein mehrtägiger Aufenthalt. Die beiden drangen jeden Tag darauf, die Gäste möchten doch noch einen Tag länger bleiben, und dies mit solchem Eifer und solcher Herzlichkeit, dass es María nicht schwer fiel, ihrer Bitte nachzukommen. María war immer wieder erstaunt über ihre Fürsorge für Menschen, die ihnen im Grunde völlig fremd waren. Ihre Gastfreundschaft
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