Die Ängstlichen - Roman
scheinbar unendlich darüber hinwegjagte, ehe das Flugzeug seine Schnauze irgendwann in den Wind reckte, es einen kurz in den Sitz drückte und der feste Untergrund plötzlich unter einem zurückwich. Doch inzwischen sah sie selbst, dass sich die Bahn ihres Lebens merklich verkürzt hatte und aus der Unschärfe der Jugend und der mittleren Jahre klar umrissen deren Ende auftauchte.
Wenn sie morgens vor dem Badezimmerspiegel stand und sich dabei beobachtete, wie ihre rechte Hand die Clarins-Feuchtigkeitscreme im Gesicht auftrug und anschließend inkleinen konzentrischen Bewegungen darüber verteilte und sie die feinen Narben an ihren Nasenflügeln ertastete, hörte sie sich immer häufiger lautlos sagen: »Wie bin ich bloß so geworden? Weshalb wurde ich nie die Frau, die ich einmal gehofft hatte sein zu können? Und weshalb habe ich diesen Mann, Rainer, geheiratet und ihm diese Kinder geschenkt?«
»Erkenne dich selbst!«, hatte ein weiser Grieche einmal gesagt. Die Vorstellung, sich eines Tages selbst zu erkennen und, damit verbunden, etwas Wohlgeformtes, Gelungenes sehen zu können, hatte ihr als junges Mädchen gefallen und sie angespornt. Und irgendwie hatte sie all die Jahre unbewusst auf diesen Moment hingearbeitet, mit all den ungezählten Atemzügen, Handgriffen, Schritten und Blicken, auf diesen einen einzigen kostbaren Moment der Erkenntnis und der Erfüllung. Doch nun, Jahrzehnte später, musste sie sich eingestehen, dass dieser Moment nie gekommen war. Dass sie zu einer Frau geworden war, die vergeblich gewartet hatte, und die vom Leben und dessen eigentlichen Segnungen versetzt worden war! Mehr noch: dass ihr dieses Warten etwas völlig anderes beschert hatte als Erkenntnis und befreiende Erfüllung, nämlich das faltiger und zugleich fülliger gewordene Gesicht einer inzwischen sechzig Jahre alten Frau, die ihr Lebensziel verfehlt hatte. Eine Mutter dreier Kinder, die sich, statt sich für ein Leben voller Abwechslung, Aufrichtigkeit und Lebendigkeit zu entscheiden, eines in künstlicher Harmonie und Sicherheit führte, an der Seite eines Mannes, dessen krankhafter Drang nach Geltung und materieller Sicherheit längst der eigentliche Motor ihrer Partnerschaft war. So war von einem gewissen Moment an alles vorhersehbar geworden, hatte sich als kleinkariert und spießig erwiesen. Und manchmal sogar als niederträchtig in der Art, wie sie, von Rainer immerzu dazu animiert, gemeinsam anderen die Lebenssäfte abzapften und sie übervorteiltenin ihrer maßlosen Begierde und der Vorstellung, ihnen stehe mehr als anderen zu.
Ulrike erschrak über die plötzliche Offenheit ihrer Gedanken, registrierte eine Gänsehaut an beiden Armen und zog das Taschentuch, das sie kurz zuvor dort hineingesteckt hatte, aus der Tasche ihrer Jeans und schnäuzte sich. Aber vielleicht war dies ja der wenn auch schmerzhafte Moment der Erkenntnis, auf den sie so lange gewartet hatte? Die Stunde, da sie plötzlich mehr über ihr Leben wusste, dieses schrecklich schöne »Erkenne dich selbst!«.
All die Jahre hatte sie nicht das Geringste dagegen unternommen, wenn Rainer, der das Leben für eine fortwährende Wohltätigkeitsveranstaltung zu seinen Gunsten hielt – eine Art Wiedergutmachungsprogramm für die Schmach seiner schweren, von Not und Enthaltsamkeit geprägten Leverkusener Jugend –, das Netz, das er vom ersten Tag ihrer Ehe an heimtückisch über sie geworfen hatte, enger und enger um sie zog. Und nun, da die Kinder aus dem Haus waren, musste sie feststellen, an einen Mann und ein Leben gekettet zu sein, das sie so nicht mehr wollte. Doch was sollte sie tun? Wohin sollte sie gehen? Dabei hatte sie all die Zeit genau das Leben geführt, das Johanna ihr in ihrer Mutlosigkeit und ihrer bedrängenden Art eingeredet und sich von ihr gewünscht hatte. Voller Sicherheit, an der sie indirekt partizipieren konnte. Nun hasste Ulrike sie dafür.
Johanna hatte damals alles darangesetzt, dass sie Juan vergaß und sich für Rainer, der in ihren Augen etwas Aufstrebendes, Entschlossenes besaß, entschied. Und Ulrike war ihrem Wunsch gefolgt, dumm und feige, wie sie damals gewesen war, hatte Juan und Barcelona den Rücken gekehrt, war nach Hanau zurückgekommen und hatte sich auf Rainer eingelassen. Und nun, nach achtundzwanzig Jahren an seinerSeite, musste sie sich eingestehen, so ziemlich alles falsch gemacht zu haben.
Ja, sie hatte sich auf Rainer eingelassen, bis ins Kleinste. Unüberlegt und aus dem blinden Verlangen heraus, bei
Weitere Kostenlose Bücher