Die Ängstlichen - Roman
ihm das finden zu können, was sie bei ihren Eltern so sehr vermisst hatte: Geborgenheit und Konstanz. Selbst ihre Handschrift sah inzwischen der von Rainer zum Verwechseln ähnlich. Sie war in Rainer aufgegangen wie eine Prise Salz in einem Hefeteig, war ununterscheidbar von ihm geworden und ein Teil seines von langer Hand vorbereiteten, kleinlich entworfenen Selbstverwirklichungsprogramms. Ihr altes, von Sehnsüchten und Träumen gelenktes Leben war ein Schatten, der sich noch manchmal lähmend über sie legte und ihr für ein paar kurze schmerzliche Momente vor Augen führte, wer und was aus ihr hätte werden können.
Natürlich hatte sie, anders als zum Beispiel ihr Bruder Helmut, der großspurig vorgab, unbestechlich zu sein, und dabei das Leben neuerdings für eine nicht enden wollende Party hielt, in Wahrheit aber vor seiner eigenen Gefühlskälte davonlief und sich vergnügungssüchtig weigerte, der Misere seines mehr schlecht als recht improvisierten Lebens ins Auge zu sehen, haltbare moralische Werte angehäuft, die es ihr, so glaubte sie jedenfalls, erlaubten, andere zu beurteilen und sich ins Verhältnis zu ihnen zu setzen. Wirklich zufrieden aber machte sie das nicht. Oh, wie sehr war ihr Helmut doch im Innersten zuwider, der in seinem Schwarzweißdenken gefangen war wie eine vor dem Verkitten zwischen zwei Doppelfensterglasscheiben geratene Fliege und immerzu seine wenig tiefschürfenden Gerechtigkeitsvorstellungen zum Besten gab. Seine Überheblichkeit, mit der er sie von Anfang an, als sie noch Kinder waren, von oben herab belächelt und abgetan hatte. Natürlich wusste sie, dass Helmut sie im Gegenzugnicht minder inbrünstig dafür verachtete, wie fraglos sie und Rainer ihre Bürgerlichkeit zelebrierten. Doch das war ihr egal. Denn dachte sie an Konrad, ihren jüngeren kranken Bruder, fühlte sie sich sogleich besser und unversehrt, eine Verschonte, der es vergönnt war, eine Existenz zu führen, die nicht den Gesetzen eines undurchschaubaren Wahnsinns gehorchte und, wie zuletzt im Fall ihres an Parkinson erkrankten und später an der Ruhr zugrunde gegangenen Vaters Paul, in Schwäche, Siechtum und Selbstverleugnung endete.
Nachdenklich blickte Ulrike hinaus in die Dunkelheit, wo die nur mehr diffus erkennbaren Apfelbäume sich bedenklich bogen und der Sturm in deren kahlen, manchmal kurz und scharf umrissenen Kronen wühlte, als sie plötzlich im Gegenlicht der draußen zuckenden Blitze sekundenlang ihr Antlitz in der Fensterscheibe gespiegelt sah. Und mit einem Mal wusste, sah und begriff sie auf schmerzliche Weise, wohin ihr Weg sie führen würde.
2. Spannungsgefälle
J ohannas Braun-Wecker zeigte kurz vor elf Uhr. Draußen stürmte es mit unverminderter Heftigkeit, ein Jahrhundertunwetter, wie es hieß. Auf allen Kanälen (sie hatte in der Küche kurz das Radio eingeschaltet) hatten die Nachrichtensendungen die Sturmwarnungen der Wetterdienste durchgegeben, zu erhöhter Vorsicht gemahnt und die Bevölkerung davor gewarnt, sich im Freien aufzuhalten. Von Stürmen in Orkanstärke und sogar einer möglichen Sturmflut war die Rede gewesen. (Das letzte Mal war der Main bei Hanau 1595 über die Ufer getreten und hatte große Teile Altkesselstadts überflutet.)
An der Nordseeküste hatte das Unwetter bereits in bedenklichem Ausmaß gewütet, hatte Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt, vertäute Boote durch die Luft gewirbelt und Hunderte von Metern weiter an den Strand geworfen, wo sie zerschellt waren. Johanna fand das alles äußerst beängstigend. Nein, ihr war in diesen Minuten nicht wohl in ihrer Haut.
Wenn der Wind drehte, was alle paar Minuten geschah, klatschte das aus den überlaufenden Regenrinnen herabstürzende Wasser mit furchterregendem Laut gegen die Läden. Gott sei Dank, dachte sie, habe ich sie noch rechtzeitig zugemacht und von innen fest verriegelt. Dennoch fuhr sie bei jedem neuerlichen Laut jäh zusammen, ein Gefühl, das sie unweigerlich an die Bombennächte während des Krieges im Luftschutzkeller erinnerte. Bei jedem näher kommenden Heulen hatten sie die Köpfe eingezogen und aneinandergekauert denAtem angehalten. Sie hatten sich die Finger in die Ohren und gegenseitig die Fäuste in die aufgerissenen Münder gestopft, damit bei einem möglichen Einschlag das Trommelfell nicht platzte. Dazu die unerträgliche Hitze, der schwindende Sauerstoff, das Keuchen der Eingeschlossenen und später die Leichen überall: leblose, blutverschmierte Fleischklumpen, Rümpfe, denen
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