Die Ängstlichen - Roman
sitzend, betrachtete sie interessiert die kleine, aber ziemlich stark blutende Wunde, um überrascht festzustellen, dass sie offenbar in eine Glasscherbe getreten war. Doch wie das? Ganz einfach: Sie hatte bereits vergessen, dass ihr genau an dieser Stelle die Uhr heruntergefallen war. Erst am nächsten Morgen fiel es ihr wieder ein, gepeinigt vom anhaltenden Schmerz in der Sohle. Nicht zuletzt dieses Erlebnis hatte sie in ihrem Entschluss, die Verantwortung für ihr Leben in fremde Hände zu legen, bestärkt.
Doch ihr selbstgewählter Abschied aus der Ankergasse würde mitnichten ein Akt ohnmächtiger Kapitulation sein, sondern vielmehr das genaue Gegenteil: das Zeugnis freier Willenserklärung. Bis dahin aber, das spürte sie jetzt, würde esnoch ein langer Weg sein, gepflastert mit Rückschlägen, Prüfungen und Ängsten.
Nach weiteren vier oder fünf erfolglosen Versuchen, Schlaf zu finden, verbunden mit ruhelosen Gängen durch die dunkle Wohnung und zur Toilette, gelang es ihr schließlich, und sie trieb auf den dunklen, schweren Wolken der Bewusstlosigkeit davon.
B en drückte die Zungenspitze zögerlich gegen den Riss in seiner Mundschleimhaut und registrierte das Blut, dessen metallisches Wesen augenblicklich die Geschmackspapillen seiner Zunge überflutete. Anschließend ortete er drei weitere, äußerst schmerzhafte Entzündungsherde: über dem linken oberen Reißzahn, in der rechten Backentasche und am Lippenbändchen an der Innenseite der Oberlippe. Seit geraumer Zeit schlug er sich mit einer wachsenden Anzahl kleiner, aber einschneidender Ausfälle und Störungen seines Körpers herum, von dem er gerne als »Betriebssystem« sprach.
Ben litt unter Panikattacken, ein auf den ersten Blick aggressives Wort, das jedoch treffend jenen Wechsel seines Gemütszustandes umschrieb, der ihn zumeist jäh überfiel, seinen Puls in die Höhe jagte, Mundtrockenheit und kalte Hände erzeugte und ihm das beklemmende Gefühl gab, jeden Moment sterben zu müssen.
Ben hatte die Angst- und Somatisierungsstörungen in allen Facetten und Schattierungen kennen und fürchten gelernt. Hinter jeder Ecke konnte das Grauen lauern und ihn überfallen und lähmen wie der Biss einer Giftschlange.
Anfangs hatte er seinen wiederkehrenden Horror und die damit verbundenen wechselnden Symptome, die er an sich registrierte, als Anzeichen unweigerlich zum Tode führenderKrankheiten wie Aids oder Krebs gedeutet und war in tiefe Depressionen verfallen. Bis er sie in quälend langen und ebenso schmerzvollen Therapiesitzungen als das zu dechiffrieren lernte, was sie in Wahrheit waren: Warnsignale und Hinweise auf etwas Tieferliegendes, Grundsätzlicheres, das sich in seiner Seele abspielte und seine Organe lediglich als Benutzeroberfläche gebrauchte, auf denen es sich auszudrücken versuchte.
»Krank ist ein relativer Begriff. Wir sind alle krank!«, hatte sein Freund Kaplan, der das Leben von jeher eher nüchtern betrachtete, einmal in einem anderen Zusammenhang lapidar geäußert. »Die Frage ist bloß, wie gut wir in Bezug auf die Regeln funktionieren, die uns die Gesellschaft als gewünscht auferlegt.« Ben hatte seinen Freund spontan für diese Erkenntnis bewundert und seine Worte sofort aufgegriffen und sich gleich weniger stigmatisiert gefühlt, wenn er an seine zahllosen Störungen dachte. Und eine Zeitlang hatte er Kaplans Sätze wie Mantras im Stillen heruntergebetet, wenn der Gedanke, kränker als andere zu sein, wieder einmal von ihm Besitz ergriff. Entschieden weiter in seinem Kampf gegen die inneren Dämonen aber hatten sie ihn nicht gebracht.
Er stand im Badezimmer und knipste das Lämpchen über dem Waschbecken an, schob den Kopf leicht nach vorn und riss den Mund auf. Das Zahnfleisch war stark gerötet, und die Spitze seiner fleischigen, mit einem spröden gelblichen Belag überzogenen Zunge schien förmlich zu glühen.
Zitternd schob er den Zeigefinger der linken Hand in die rechte, feucht glänzende Backentasche, drückte sie ein Stück zur Seite, so dass die hinteren Backenzähne zum Vorschein kamen. Er spähte in den rötlich schimmernden Spalt. Und dann sah er den Riss in der Schleimhaut, ähnlich einem Geschwür, aus dem Blut zu sickern schien, klein und harmlos wie alles, was eine große Wirkung hat. Und schon kam die Mechanikder Angst in Gang: Seine Hände wurden feucht und kalt, und sein Atem beschleunigte sich. Denn Ben wusste um die Gefährlichkeit scheinbar unbedeutender Kleinigkeiten und fürchtete
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