Die Ängstlichen - Roman
Zahnbürste und Zahnpasta der Marke blend-a-med Complete plus, zwei Packungen Otriven-Nasenspray, Mycospor-Fußpilzmittel, Kokett-Ohrenstäbchen, einen Nagelknipser, Cliff-Two-in-One-Shower-Gel sowie die Schachtel Captagon, die ihm sein Golfpartner Dr. Meciar (für den Fall, dass er mal etwas mehr Ruhe brauchte, und dies hier war so ein Fall!) besorgt hatte.
Früher hatte Helmut manchmal die eine oder andere Pille eingeworfen (einmal hatte er sogar Koks gesnifft), wenn er das Gefühl hatte, neben der Spur zu sein (auch wenn er Leute, die Drogen nahmen und neben der Spur waren, für Schwächlinge hielt und verachtete). Marina dagegen, seine erste Frau, war regelrecht abhängig von dem Zeug gewesenund hatte die Kapseln zuletzt konsumiert wie andere Salmiakpastillen.
Zunächst hatte er ihren sich stetig steigernden Beruhigungsmittelkonsum als abträgliche Begleiterscheinung ihres überspannten Lebenshungers abgetan und sich nicht weiter daran gestört. Doch als sie anfing, nicht mehr ohne das Zeug auszukommen, und häufig schon morgens wie chloroformiert wirkte, hatte er sie zur Rede gestellt und ihr abverlangt, mit diesem Unsinn aufzuhören. Von da an hatte sie begonnen, das Zeug hinter seinem Rücken zu schlucken. Später war der Alkohol hinzugekommen, Wodka, Schnäpse und alle Arten von Digestives, und Marina war immer weiter von ihm weggedriftet. Bis sie ihn eines Tages verließ (und der Spur des Alkohols in Person eines Duisburger Barbesitzers folgte) und er die Polizei einschaltete, um sie zu suchen. Als man sie nach Tagen in einem Hotel in Duisburg-Wedau bewusstlos in einem Meer aus Flaschen fand, reichte Helmut die Scheidung ein. Verwirrt, verbittert, aber auch irgendwie erleichtert.
Er löschte das Licht im Bad und ging zurück ins Wohnzimmer, wo seine Reisetasche auf dem Tisch stand, legte den Beutel zu seinem Bademantel, dem Schlafanzug, den Hemden, Socken und Unterhosen und schlurfte in die Küche. Dort nahm er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, versagte sich deren Genuss aber umgehend und stellte sie wieder zurück. Denn wenn er trank, musste er früher oder später pinkeln, und wenn er pinkelte, sah er rot.
Er trat ans Fenster und spähte hinaus. Alles schien dort draußen wie immer. Die kleinen, von einheitlich braunen Jägerzäunen eingefassten und gegeneinander abgegrenzten schmutzig grünen Rasenflächen der jeweiligen Grundstücke, auf denen sich da und dort Säulen- oder blaue Mädchenkiefernin die Höhe schraubten, die hell in der fahlen Sonne leuchtenden Fassaden. Alles wirkte gepflegt und doch so abgestorben wie nach einem Atomangriff. Keine Menschenseele war zu sehen, und Helmut stellte sich vor, wie seine Nachbarn in ihren Küchen und Bädern und Schlafzimmern mit verdrehten Gliedern reglos auf dem Boden lagen und mit schreckhaft aufgerissenen Augen blicklos himmelwärts starrten. Nicht einmal ein Hund oder eine Katze liefen vorbei.
Er wandte sich ab, ging zurück ins Wohnzimmer, ließ sich in seinen Sessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Je deutlicher er sich vorstellte, was in Kürze mit ihm geschehen sollte (im OP-Raum C 112 des St. Vinzent-Krankenhauses), desto größer wurde seine Unruhe. (Dabei war er nie ein Feigling gewesen, spielte nun aber ernsthaft mit dem Gedanken, eine Captagon einzuwerfen, um das Sirren in seinen Schläfen abzustellen.)
In seinem Zustand war Helmut natürlich blind für die sich plötzlich wie per Dimmschalter intensivierenden kürbisgelben Sonnenstrahlen, die all die in der Luft wimmelnden Staubpartikel sichtbar machten und die Spitzen seines schmutzig grauen Flokatis in ein künstliches Glimmen versetzten. Die dicht stehenden, lila- und rosafarbenen Stiefmütterchenrabatten draußen vor dem Haus, die er kürzlich angelegt hatte, strahlten ebenfalls mit irritierender Intensität. Dazu das kräftige rote Flammen der Bougainvilleen auf der Fensterbank vor dem Esszimmerfenster, ein wahrer Blütentraum.
Möglicherweise hätte Helmut ewig so dagesessen und sich immer weiter in seinen schwarzgeränderten Phantasien verloren, hätte er nicht das kurze, metallische Klappern des Briefkastenschlitzdeckels vernommen. Er sprang auf, lief zur Tür, hielt kurz inne und öffnete sie einen Spalt.
Vor ihm auf dem Fußabstreifer saß zu seiner Überraschungein vielleicht zehnjähriger Junge, der fragend zu ihm aufsah und sagte: »Hallo? Was gibt’s?«
»Was soll’s geben?«, antwortete Helmut verblüfft. »Du sitzt auf meinem Fußabtreter! Gibt es keinen
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