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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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durcheinander sind.«
    »Hast du nicht! Du hast gesagt, ich täte dir leid.«
    »Ist doch irgendwie dasselbe, oder?«, sagte der Junge mit festem Blick.
    Helmut war perplex über die Schlagfertigkeit des Burschen. Unter seinen Tennisschülern waren ähnlich aufgeweckte Schlaumeier gewesen. Doch dieser hier übertraf alles. »Also was ist jetzt? Eis? Ja oder nein?«
    »Ich kenn Sie doch überhaupt nicht!«, rief der Junge, ohne sich vom Fleck zu rühren.
    »Du vielleicht nicht«, rief Helmut, »aber dein Vater schon.«
    Und plötzlich sah er sich ganz von außen, wie von einer anderen, höheren Warte aus und von einer schwenkbaren Kamera eingefangen, die mal näher kam und sekundenlang einen größeren Ausschnitt seines Gesichts fixierte, ehe sie wieder davonglitt und eine Totale der Szene zeigte: einen Mann mit mausgrauen Hausschuhen an den Füßen und schlaff herabhängenden Armen, der in der geöffneten Haustür seines Bungalows stand und einen Jungen, der eine Schultasche auf dem Rücken trug und ein Comicheft in der Hand hielt, zu überreden versuchte, in sein Haus zu kommen, um mit ihm Eis zu essen.
    »Also was ist nun?«, rief Helmut.
    »Nein, das geht nicht«, antwortete der Junge. »Tut mir leid!«
    »Aber wieso denn? Hast du vielleicht Angst vor mir?«
    »Vor Ihnen? Nein«, rief der Junge lachend und fuhr sich mit der linken freien Hand durch die Haare, während er mit der anderen das Comicheft hielt. »Ich muss gehen«, fügte er hinzu.
    »Aber eben wolltest du doch noch, ich meine …«, rief Helmut verunsichert.
    »Ja, aber jetzt muss ich eben gehen, außerdem habe ich meinen Comic zu Ende gelesen.« Dabei formte er das Heft zu einer Art Rolle, die er sich wie ein Fernrohr vor das rechte Auge hielt, und spähte herüber.
    »Na dann«, sagte Helmut, »ein andermal vielleicht?«, und spürte, wie hinter seiner Enttäuschung wieder die Angst hervorzukommen begann.
    »Ja, vielleicht«, rief der Junge, nahm sein zusammengerolltesHeft herunter und lief, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, davon.
    Helmut starrte ihm so lange nach, bis er hinter den hoch aufgeschossenen Büschen des Nachbarhauses verschwunden war.
    Dann schlich er zurück ins Wohnzimmer. Dass er ernsthaft geglaubt hatte, den Jungen in sein Haus holen zu können, empfand er nun als echte Schnapsidee. Einen wildfremden Jungen. Doch dass er nun auch noch enttäuscht war, dass es nicht geklappt hatte, war geradezu erbärmlich. Was hatte er denn gedacht: dass sie wie zwei gute alte Freunde an ihren Eistüten lecken und einander tolle Geschichten auftischen würden?
    »O Gott, wie naiv bin ich eigentlich?«, sagte sich Helmut und verpasste seinem rechten wie zubetonierten Nasenloch eine Ladung Otriven. Mit einer demütigenden Kraftanstrengung schüttelte er den Kopf. Dann lief er hinüber in die Essecke, machte vor der Stereoanlage halt (einer Pioneer-Mini-Kompaktanlage, die ihm seine Golffreunde zum 60. Geburtstag geschenkt hatten) und drückte so lange wahllos irgendwelche Knöpfe und Tipptasten, bis sämtliche LCD-An zeigen leuchteten, flimmerten und blinkten und in enormer Lautstärke die ersten Takte des Tony-Christie-Klassikers »Is This the Way to Amarillo« erklangen. Es folgten die Stücke »Avenues and Alleyways«, »Don’t Go Down to Reno« und »Sweet September«. (Helmut hatte seit langem ein Faible für die Songs des smarten Briten. Als er seine zweite Frau Karla in einer Pizzeria in Bad Homburg kennenlernte, lief im Hintergrund »Oh Mi Amor«.) Und er hätte wohl immer weiter dagesessen im Lärm und sich selbst bedauert, hätte nicht in das Ende von »Sweet September« hinein das Telefon geläutet.
    »Was in aller Welt ist denn bei dir los?«, rief Johanna gegen den abschwellenden Lärm, der aus ihrem Hörer drang.
    »Ach du, Mutter«, seufzte Helmut, lief zur Stereoanlage und drosselte durch wildes Drücken auf den Powerbutton die Lautstärke.
    »Feierst du eine Party, Helmut? Um diese Zeit? Oder wieso ist bei dir ein solcher Lärm?«
    »Weil mir danach ist, Mutter, ganz einfach! Okay?«, antwortete er schnippisch. Doch zu seiner Überraschung war sie keineswegs eingeschnappt, sondern wechselte kurzerhand das Thema.
    »Also Rainer ist ja wirklich ein ziemliches Ekel, kann ich dir sagen«, begann sie.
    Doch Helmut, der beim besten Willen keine Lust auf eine der üblichen Schmähreden seiner Mutter hatte, unterbrach sie unwirsch und sagte:
    »Mutter, spar dir bitte deine Klagen, ich habe, wie du weißt, im Moment weiß Gott

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