Die Ängstlichen - Roman
anderen Platz, an dem du sitzen kannst? Ich meine, wieso ausgerechnet hier, ausgerechnet bei mir?«
»Einfach so! Reiner Zufall«, antwortete der Junge, der mit dem Rücken zu ihm dahockte, gelangweilt, und hielt ein aufgeschlagenes Comicheft (»Der silberne Surfer«) in der Hand. Helmut betrachtete flüchtig das aus seiner Sicht gut erkennbare Storyboard mit all den größeren und kleineren Sprechblasen.
Der Junge trug ein leuchtend rotes langärmliges T-Shirt, verblichene, an beiden Knien durchgescheuerte Jeans und abgewetzte kakaobraune Nike-Turnschuhe. Das flachsblonde Haar hing ihm wirr in die nicht sehr hohe Stirn, so dass er unter einer Art Vorhang zu ihm aufblickte. Neben ihm auf den anthrazitfarbenen Granitplatten lag ein offen stehender Schulranzen, aus dem Bücher und verschiedenfarbige Schulhefte hervorschauten.
»So«, sagte Helmut und trat von einem Bein auf das andere, »einfach so.«
»Ja, genau«, sagte der Junge ungerührt und blätterte eine Seite in seinem Comic um.
»Na, dann pack mal deinen Kram zusammen und geh dahin, wo du hingehörst!«
»Nö, keine Lust«, erwiderte der Junge postwendend, ohne seinen Blick von dem Heft zu lösen.
Jetzt fiel Helmut ein, woher er ihn kannte. »Du bist doch der Sohn von Hartwigs in der Siebzehn drüben, stimmt’s?«
»Und wenn schon!«, antwortete der Junge. »Ich kann immer noch sitzen, wo ich will!«
»Aber nicht vor meiner Tür, verstanden!«, sagte Helmut. »Und gib nicht so freche Antworten. Was fällt dir eigentlich ein?«
»Ich will bloß in Ruhe meinen Comic zu Ende lesen, ist grad so spannend.«
»Na los, schieb ab!«, sagte Helmut und zog die Tür weiter auf.
»Ach, kommen Sie! Bloß noch ein paar Seiten, okay? Hier, sehen Sie!« Der Junge streckte ihm das Heft hin.
»Nix da!«, sagte Helmut nun energischer. »Verschwinde, und zwar schnell!« (Dieser kleine Scheißkerl, dachte Helmut, hat ja ziemlich gute Nerven.) Tatsächlich machte der Junge nicht die geringsten Anstalten, seiner Anweisung Folge zu leisten, sondern vertiefte sich weiter in seine Lektüre. Helmut wurde nicht schlau aus ihm. Entweder war der Junge ungeheuer verschlagen, oder er hatte einen Schaden.
»Hey, hörst du nicht, was ich sage?«, rief er aufgebracht und stieß zaghaft mit der Spitze seines Pantoffels gegen den Ranzen. »Jetzt nimm deine Sachen und mach, dass du wegkommst!«
»Ey!«, rief der Junge, wandte sich ruckartig um und sah ihn empört an. »Lassen Sie das gefälligst, ja?! Sie sind nicht mein Vater, klar!« Dabei klappte er das Comicheft zu und schob es mit aufreizender Gemächlichkeit in die Schulmappe, stand auf und sah Helmut grimmig an. »Soll ich Ihnen mal was sagen?«, fügte er hinzu und trat näher an Helmut heran, der ihn verdutzt ansah.
»Was denn?«, antwortete Helmut ungeduldig (und konnte sich über die anhaltende Überheblichkeit des kleinen Burschen nur wundern).
»Sie tun mir ganz schön leid!«, sagte der Junge und legte seinen kleinen Kopf mit den blonden Fransen leicht schräg.
Zunächst wusste Helmut nicht, wie er darauf reagierensollte. Schließlich rief er aber erbost: »Ach, verschwinde endlich!«, drehte sich um und schob die Tür hinter sich zu.
»Frecher Kerl«, entfuhr es ihm auf dem Rückweg ins Wohnzimmer. Was wusste dieser dahergelaufene Bengel schon von ihm und seinen Sorgen? »Sie tun mir leid!«, äffte er den Jungen nach. So ein Unsinn! Dabei konnte er sich selbst nicht erklären, weshalb er mit solcher Ablehnung auf den Burschen reagiert hatte. Was spielte es denn für eine Rolle, ob er vor seiner Tür oder der eines Nachbarn saß und sein Heftchen las? Und schon im nächsten Moment tat es ihm leid, wie er sich verhalten hatte. Er lief in die Küche, um eine Tüte Eiscreme zu holen. (Er hatte keine Ahnung, wie das Eis überhaupt in seine Kühltruhe gekommen war. Wahrscheinlich hatte er es einmal für eines seiner Spontanfeste gekauft und dann vergessen. Kürzlich war es ihm bei dem zähen Versuch, eine Packung Mischgemüse aus dem krachenden Eis herauszubrechen, in die Hände gefallen.) Er ging mit dem Eis zurück zur Tür und rief: »Wie wär’s mit einem Eis?«, seinen Kopf erwartungsvoll ein Stückchen vorschiebend.
»Machen Sie Witze?«, rief der Junge spöttisch und ließ sein Heft sinken. »Eben noch jagen Sie mich zum Teufel, und nun kommen Sie mir mit so was. Finden Sie das vielleicht komisch?«
»Ja, komisch, ich weiß«, sagte Helmut halblaut.
»Habe ich doch gesagt, dass Sie ein bisschen
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