Die Ängstlichen - Roman
und sein Stolz größer als sein Durst und die Angst, das Bewusstsein zu verlieren.)
Im Stillen betete er, dass sie ihn nicht fanden und zurückbrachten, so kurz vor dem Ziel. Und so sagte er sich in Verkennungseines körperlichen Zustandes: Ich muss bloß schnell wieder auf die Beine kommen, dann gehe ich in die Ankergasse, und alles wird gut!
E ine Hoffnung, die Ulrike immer weniger hegte, während sie am nächsten Morgen im Pyjama nach einer viel zu kurzen Nacht an Rainers Seite im Badezimmer ihres Fuldaer Hauses auf dem heruntergeklappten Klodeckel saß und ihrem Göttergatten durch die Milchglasscheibe der Duschkabine hindurch dabei zusah, wie er sich im Rauschen des Wasserstrahls ausgelassen pfeifend einseifte. Sie hatten bis in die Morgenstunden miteinander geredet, und zunächst hatte Rainer sich reuig gezeigt und ihr einen ganzen Katalog guter Vorsätze präsentiert, die, kurz gefasst, wie folgt lauteten: Ja, ich liebe dich, nein, es kommt nicht wieder vor, versprochen! Und, ja, ich will mich ändern! (Nicht ein einziges Mal hatte er den Drohbrief erwähnt oder Anstalten gemacht, sie in sexueller Absicht zu berühren. Dabei hatte sie sicher geglaubt, die Angst werde ihm die Zunge lösen und ihn in ihre Arme zurücktreiben.) Doch schon beim Aufwachen am späten Vormittag hatte er wieder die üblichen Reden gehalten, so dass Ulrike resigniert gedacht hatte: Typisch! Kaum hat er festen Boden unter den Füßen, hebt er auch schon wieder ab! Und so befriedigt sie seine guten Vorsätze auch in der Nacht vernommen hatte, so wenig glaubte sie nun – im hellen Licht des Tages – an deren tatsächliche Umsetzung. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, was seine aufgesetzte Fröhlichkeit zu bedeuten hatte: Rainer hatte Angst und erging sich in allzu durchsichtigen Ablenkungsmanövern! In die Enge getrieben, hätte er ihr schamlos das Blaue vom Himmel versprochen, bloß um freizukommen. Wiederwar sie auf ihn hereingefallen, hatte sich erneut Hoffnungen gemacht – und würde wohl abermals enttäuscht werden.
Also musste sie den Druck auf ihn nochmals erhöhen, und sie wusste auch schon, wie. Angst war also offenbar erst in einer gesteigerten, für andere bereits unerträglichen Dosis das Mittel, auf das er reagierte. Und nachdem Rainer sich aufwendig von ihr verabschiedet, sie lange umarmt und mehrmals auf die Stirn geküsst hatte und ins Büro verschwunden war, schritt sie unverzüglich zur Tat.
Zur selben Zeit lag Helmut (der sich schwor, nie mehr auch nur ansatzweise Schlechtes von Ausländern zu denken, geschweige denn über sie zu äußern), umringt von dem chilenischen Chirurgen Dr. Ammar, dem Leiter der Urologischen Station, dem niederländischen Anästhesisten Nicolas Tervooren (der ihn zuvor ausführlich befragt, sich Notizen gemacht, ihn über mögliche Risiken einer Vollnarkose belehrt und ihm eine Beruhigungsspritze verpasst hatte), der Leitenden spanischen OP-Schwester Angelika Rodriguez sowie den Schwestern Eveline und Elke und dem Pfleger Albert auf dem Operationstisch im St.-Vinzenz-Krankenhaus und spürte, wie das Betäubungsmittel, das Nicolas Tervooren ihm kurz zuvor ebenfalls intravenös verabreicht hatte und das durch seine Blutbahn rann, seine Wirkung in seinem zentralen Nervensystem zu entfalten begann. Es war, als stürze alles Fleisch, das seine Knochen und Glieder umgab, gleichzeitig dem Geozentrum zu, ein kräftiges Ziehen der Schwerkraft an seinem Leib wie nach einem Marathonlauf, ein abrupter Sturz kopfüber in die Finsternis. (Einmal hatte er, untrainiert, wie er war, nach einer verlorenen Wette tatsächlich am Frankfurt-Marathon teilgenommen und war nach neun Kilometern aus dem Hauptfeld ausgeschert und am Straßenrand völlig entkräftet in die Arme eines Wildfremden gesunken. Daran hatte erplötzlich denken müssen, an dieses jähe Wegsacken ins Bodenlose, damals.)
So muss Sterben sein, hatte Helmut, nicht einmal unzufrieden, in einem entlegenen Winkel seines Bewusstseins gedacht. Er hatte das Gefühl gehabt, seine Seele steige aus seinem Körper empor wie Luftblasen aus einem auf Grund gelaufenen Dampfer und schwebe davon, verlasse seine sterbliche Hülle wie ein Geist die Flasche. Dann fielen seine Lider zu, die Zunge sackte in das weiche Fleischbett seines erschlafften Unterkiefers, und er glitt aus dem Wachzustand hinüber in eine angenehme Schwerelosigkeit. (Die Nachuntersuchungen hatten den Verdacht auf einen Tumor genährt, und dann war alles ziemlich
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