Die Ängstlichen - Roman
er sich praktisch unablässig, was dieser Jemand mit seiner Drohung bezweckte und wie das alles enden sollte. Doch was ihn am meisten irritierte, war, dass der oder die Unbekannten bislang nicht die geringsten Forderungen stellte. Und auch sonst blieb alles ruhig. Kein mysteriöses Telefonklingeln in der Nacht, keine weiteren Botschaften, niemand, der sich spätnachts vor seinem Haus herumtrieb.
Wenig später lief Rainer durch Fuldas ungemütlich kaltespätnachmittägliche Straßen, über denen sich in der Ferne inzwischen ein dunkler wolkenloser Himmel wölbte. Von Blau keine Spur mehr. Unter dem Vorwand, Zahnschmerzen zu haben, hatte er seine Teilnahme an der Sitzung der Geschäftsleitung abgesagt, seinen Mantel genommen und war regelrecht aus seinem Büro geflohen. Als er in den Lift trat und dessen Schiebetür sich mit einem feinen mechanischen Summen zuschob und die Kabine mit einem Ruck in die Tiefe sank, hatte er für einen Moment die Augen geschlossen und gespürt, dass er am ganzen Körper zitterte.
Kurz darauf betrat er eine Kneipe am Innenstadtring, wo ihm Lärm und Zigarettenrauch entgegenschlugen. Er bestellte ein Bier, bezahlte und lief, nachdem er nicht mehr als einen hastigen Schluck getrunken hatte, vor dem Lärm und dem Gestank davon und wieder hinaus auf die Straße. Ein paarmal hielt er im Laufen abrupt inne, blieb stehen und blickte sich um, weil er glaubte, der Unbekannte könne womöglich bereits ganz in seiner Nähe sein.
Eilig zog er sein Handy aus der Tasche, drückte die Anruftaste und starrte gebannt auf das azurblaue Display. Als er keine Hinweise auf neue Anrufe fand, stolperte er weiter. Und in diesem Moment, da Rainer alles daransetzte, keinen der ihm gelegentlich entgegenkommenden Passanten, die aus den inzwischen hell erleuchteten Geschäften traten, zu streifen, spannte Ulrike im Schein ihrer Taschenlampe, die sie diesmal zusätzlich zu der schlappen 40-Watt-Glühbirne an der Kellerdecke auf dem ausrangierten Siemens-Kühlschrank entsprechend postiert hatte, in wilder Entschlossenheit einen zweiten holzfreien DIN-A4-Bogen 80-Gramm-Papier in die Brother-Reiseschreibmaschine, die auf ihren Knien stand, um zu Ende zu bringen, was sie kürzlich an gleicher Stelle begonnen hatte. Und nachdem sie vollbracht hatte, was aus ihrerSicht getan werden musste, blickte sie aufs Papier, tastete das Geschriebene ab wie eine Klaviervirtuosin, die an einem fabrikneuen Bösendorfer Flügel sitzt, die Finger über die Tasten gleiten lässt, ohne sie anzuschlagen, mit zitternden, halb geschlossenen Lidern. Anschließend faltete sie das Blatt zweimal, schob es mit einem langgezogenen Seufzer in den neben ihr auf dem Werkzeugkasten liegenden Umschlag und klebte ihn zu. Danach verstaute sie die Schreibmaschine, nahm ihre Taschenlampe und das Kuvert, löschte das Licht, lief hinauf und hinaus auf die Straße und schob den Umschlag, nachdem sie sich flüchtig umgeschaut hatte, in ihren Briefkasten.
In diesen Minuten, da sie im Begriff war, ihrer Ehe die schwerste Prüfung zuzumuten, war sie erstaunlich ruhig. Bis sie wie in einer Art Tagtraum zu sehen glaubte, wie es Rainers Wagen aus einer langgezogenen Kurve trug, das Fahrzeug über den Straßenrand hinausschoss, kurz flog und sich mehrere Male überschlug. Doch dann fiel ihr ein, dass Rainer ihr mitgeteilt hatte, dass er den Wagen für eine größere Inspektion in die Werkstatt gebracht hatte, und sie atmete erleichtert aus.
Wenn man nur noch in eine Richtung gehen kann, bleibt einem eben keine andere Wahl mehr, als Dinge zu tun, die man im Grunde verabscheut, sagte Ulrike sich selbst wie zum Trost. Denn spätestens seit ihrer nächtlichen Unterredung mit Rainer war ihr endgültig klar, dass der Ausgang dieser Geschichte allein von ihr abhing und dass es gänzlich bei ihr lag, diesen einmal beschrittenen Weg mutig und entschlossen bis zum Ende zu gehen. Denn wirklichen Frieden, das wusste sie, würde sie erst finden, wenn Rainer so zerstört war, dass er ohne Wenn und Aber zu ihr zurückkehrte. Da er sich aber nicht von selbst auf diesen Schritt besann, musste sie eben nachhelfen.
Ulrike blickte auf die Küchenuhr über der Spüle, die kurz nach halb eins anzeigte. Sie verspürte auf einmal Lust auf einekleine Mahlzeit, irgendetwas Süßes und zugleich Gesundes. Genauer gesagt stand ihr der Sinn nach einer Schale Joghurt mit Äpfeln und Bananen und frisch gepresstem Orangensaft.
Noch blieben ihr bis zu Rainers Rückkehr mehr als sieben Stunden,
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