Die Ängstlichen - Roman
was einfallen!«, sagte die Stimme unmissverständlich. »Ich rufe wieder an! Und zu niemandem ein Wort, Ben, hast du verstanden, zu keiner Menschenseele!«
»Ja, natürlich nicht«, sagte Ben und starrte mit dem Hörer in der Hand entgeistert ins Leere, aufgewühlt und ratlos zugleich.
A ls junger Angestellter der Bayer-Werke in Leverkusen hatte Rainer sich regelmäßig die »Herald Tribune« gekauft, war damit ins Café »Schlehbuscher Straße« gegangen, hatte eine Tasse Kaffee und ein Stück Streuselkuchen bestellt, das Dictionary hervorgeholt und sich Wort für Wort durch die Artikel und Berichte gearbeitet. Nach etwas mehr als einem Jahr war er imstande gewesen, die »Tribune« mehr oder weniger flüssig zu lesen. Sein Englisch war seither vorzüglich. Und so hartnäckig er einst daran gearbeitet hatte, seine Englischkenntnisse jenseits der Abendkurse, die er eine Zeitlang zweimal wöchentlich besuchte, zu verbessern und zu pflegen, so entschlossen hatte er seinen beruflichen Aufstieg betrieben. Von Bayer war er irgendwann, Ende der siebziger Jahre, zu Dunlop-Reifen nach Hanau gewechselt und von dort schließlich, mit der Aussicht auf eine lukrative Finanzdirektorenstelle, weiter nach Nordhessen, in den Fulda-Tower.
Rainer saß in diesen Minuten in seinem Bürosessel hinter dem s-förmig geschwungenen, mit einem fein gekörnten zimtfarbenen Furnier bezogenen Schreibtisch, hatte lässig dieFüße hochgelegt und starrte durch die großzügige Panoramascheibe ins Nichts (nein, natürlich nicht ins Nichts, Rainer hatte keine Ahnung, was das sein sollte, das Nichts, sondern in einen Himmel, der da draußen leuchtete wie ein aufgespannter knallblauer Regenschirm).
Zwischen zwei Sitzungen war er kurz in sein Büro zurückgekehrt und hatte zusätzlich zu den 10 Milligramm Propra-ratiopharm, die er jeden Tag nach dem Mittagessen einwarf, fünf Baldrian-Dispert-Dragees geschluckt und sich in seinen Sessel geworfen. Er dachte: Das Ulrike-Problem habe ich fürs Erste im Griff, Frau Lieberwirth soll einen Strauß Baccara-Rosen besorgen.
Doch genau genommen hatte sich an seiner seit dem Erhalt des Drohschreibens bestehenden brenzligen Lage nichts verändert. Schlecht gelaunt nahm er die Füße vom Tisch, wuchtete sich aus seinem Sessel, strich seinen Binder glatt, riss die Tür seines Büros auf und rief:
»Frau Lieberwirth, kommen Sie doch bitte mal!«
»Ja, sofort!«, schallte es aus dem Vorzimmer herüber, in dessen Tiefen eine Kaffeemaschine röchelte.
»Waren heute irgendwelche ungewöhnlichen Anrufe für mich, irgendetwas Verdächtiges in der Post, na, Sie wissen schon?«, sagte Rainer und blickte die in den Hüften etwas zu ausladende, mit einem fliederfarbenen Kostüm bekleidete Person forschend an.
»Was meinen Sie?«, antwortete sie verdutzt und reckte fragend ihr Kinn.
»Na, was wohl!«, knurrte er, ohne zu überlegen, was er sagte, drauflos, »Drohbriefe, an mich adressierte, verdächtig wirkende Päckchen, irgend so etwas!«
»Drohbriefe? Verdächtige Päckchen?«, sagte sie ungläubig und sah ihn streng an. »Sie machen Witze, nicht wahr?« (Ertestet mich, sagte sie sich, stellt meine Auffassungsgabe und meine Zuverlässigkeit auf die Probe. Das muss es sein, irgend so ein neuartiges, in den USA erfundenes Psycho-Spielchen, auf das er in einer neueren Ausgabe des »Manager«-Magazins gestoßen ist.)
»Nein, ich meine, ja, also«, ruderte Rainer sogleich zurück, nachdem ihm klargeworden war, in was für eine Situation er sich mit seiner törichten Frage gebracht hatte. »Vergessen Sie’s!«, murmelte er mit einem gequälten Grinsen, »und, ach, ob Sie wohl meiner Frau fünfundzwanzig rote Baccara-Rosen schicken lassen könnten und eine Karte dazu, na, Sie wissen schon, ja? Das wäre nett, fein, danke!« Dann komplimentierte er seine Sekretärin, auf deren für gewöhnlich blasser Haut sich kleine hektische Flecken gebildet hatten, aus dem Zimmer und schloss hinter ihr die Tür. Dann trat er ans Fenster und spähte missmutig hinab zum aschgrauen Besucherparkplatz, auf dem eine Handvoll Autos parkten.
Wie lang es wohl dauert, bis man da unten aufschlägt?, fragte Rainer sich flüchtig, schob diesen ziemlich ungemütlichen Gedanken aber sogleich wieder beiseite.
Er spürte, dass seine Hände feucht waren und sein Augenlid zuckte. Wie ein mächtiger Stromschlag war die Gewissheit, dass jemand seine Existenz zu zerstören drohte, in sein Leben gedrungen. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen fragte
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