Die Ängstlichen - Roman
elegant gekleidet, ein junger Mann, dem jede Form grundloser Traurigkeit fremd war und dem alle Türen offen standen. Alles schien seinerzeit auf eine Ehe mit dem Sohn eines Kleiderfabrikanten hinauszulaufen.
Und doch kam es anders. Denn als sie in den Wirren des Jahres 1942 ihren ersten Sohn Helmut zur Welt brachte und dabei bereits den Ehering trug, den Paul ihr im Beisein ihres Vaters in der Paulskirche an den Finger gesteckt hatte, hatte ihr Schicksal sich erfüllt. Sie war, und dieses Gefühl hatte sie später immer wieder gehabt, wie von dunklen, unsichtbaren Mächten gelenkt, in den falschen Zug gestiegen und in ein Leben davongefahren, das sie sich so nicht vorgestellt hatte. Der Zug, in den sie hätte steigen sollen und in dem Georg Harlan saß, wartete abfahrbereit am gegenüberliegenden Gleis unter Dampf, die Mitreisenden waren bereits eingestiegen und das Signal, das die Durchfahrt anzeigte, hochgezogen. Alles wartete darauf, dasssie, die bereits mit wehenden Haaren auf dem Trittbrett stand, schnell zustieg. Aber im nächsten Augenblick war sie schon abgesprungen. Und so lebte sie jenes Leben, das sie hatte fahren lassen, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb, später hin und wieder in ihren Träumen, sah sich in diesem anderen, ungelebten Leben lächeln und reden und darin herumgehen wie in einem lichtdurchfluteten Museum, in dem all die ausgestellten Kostbarkeiten wie zum Greifen nah waren und doch unendlich fern.
Seit dem Besuch der beiden Kriminalpolizisten stellte sie, wenn die Dunkelheit sich als dichter, undurchdringlicher Schleier über Hanau legte und der Garten mit den beiden knorrigen Kastanien in der Schwärze versank wie die Masten eines kenternden Schiffs in pechschwarzer Flut, eine Kerze ins Küchenfenster, um Janek den Weg nach Hause zu weisen. Auch an diesem Abend wiederholte sie ihre kleine, an sich sinnlose Prozedur. Sie nahm die Streichhölzer aus der Schublade neben dem Kohleofen (auf dessen benzinfarbener, blank gescheuerter Kochstelle Janek mit Vorliebe sonntagmorgens seine Weißbrotscheiben geröstet hatte), setzte den kleinen verrußten Docht in Brand und stellte die Kerze, begleitet von einem kurzen intensiven Stoßgebet, das sie zum Allmächtigen schickte, auf das Fensterbrett.
»Gib ihn mir zurück!«, murmelte sie in die Stille ihrer Zwölf-Quadratmeter-Küche und ballte dabei beide Fäuste, als könne sie dem Allmächtigen mit dieser Geste die Dringlichkeit ihres Begehrens vor Augen führen.
Natürlich wusste sie um die Sinnlosigkeit ihres Tuns. Doch dazusitzen und die Stunden und Tage tatenlos verstreichen zu lassen, war ihr zuwider. Das Einzige, was sie momentan fühlte, war Trauer. Sie trauerte um Janek, so wie sie dereinst um Paul getrauert hatte, nachdem dessen Seele endlich herausgefundenhatte aus den labyrinthischen, von Wahn und Wasserverlust der Ruhr zerstörten Überresten seines bis auf das Skelett abgezehrten Körpers. Doch die Trauer um Janek war eine Trauer, die etwas anderes enthielt, nämlich den Kummer einer Frau, die sich auf den letzten Metern ihres Lebens im Stich gelassen fühlte.
Johanna lief zur Küchentür, schloss sie ab und ging ins Bad. Sie knipste die Beleuchtung des Alibert-Schränkchens an und begann sich zu entkleiden. Nachdem sie zuletzt den Schlüpfer ausgezogen und zu den anderen Sachen auf den Rand der Badewanne gelegt hatte, stellte sie sich auf die Waage und blickte forschend an sich herab, den eigenen Leib wie eine zerklüftete Skulptur aus uralten Zeiten studierend.
Eine ganze Weile begutachtete sie die Wucherungen und zahllosen kleinen Vertiefungen in der schlaffen durchscheinenden Haut ihrer Oberschenkel, durch die sich ein weitverzweigtes, an dünne blaue Stromdrähte erinnerndes Aderngeflecht zog. Dann schielte sie lüstern auf die Anzeige der Waage. Sie zeigte 72,2 Kilogramm an, 100 Gramm mehr als am Vortag. Wie ein Schwimmer auf dem Startblock schob sie den rechten Fuß, dessen großer, verkrüppelt aussehender Zeh infolge einer vor Jahren operativ vorgenommenen Sehnenverkürzung aufragte, neben den linken und ließ ihren Blick lange interessiert vom einen zum anderen gleiten. Dabei stieg ihr in unregelmäßigen Wellen ein strenger Geruch in die Nase.
»Mein Gott, ich stinke!«, murmelte sie nicht sehr entsetzt, warf den Kopf in den Nacken und reckte das Kinn, um ihr Geruchsorgan nicht länger den eigenen durchdringenden Ausdünstungen auszusetzen. Der zweigeteilte Spiegel zerschnitt ihr Konterfei in der Gesichtsmitte
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