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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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jetzt. Und er stellte sich Iris vor, wie sie in ihrer Wohnung auf der kastanienbraunen Couch vor dem in der Ecke stehenden Fernseher saß, barfuß und im Schneidersitz, mit in den Nacken gelegtem, gegen das Polster gedrücktem Kopf und halb geschlossenen Lidern, kindlich versunken. Am liebsten wäre er aufgesprungen und zum Telefon gelaufen, um ihre warme tiefe Stimme zu hören. Was, fragte er sich, sprach denn dagegen, sie in die Sache einzuweihen?
    Vor langer Zeit hatte er einmal in einem Roman von einem Clown gelesen, der die Fähigkeit besaß, durch das Telefon Gerüche wahrzunehmen. Den Namen des Clowns und den Titel des Buches hatte er vergessen, doch dieses Detail war ihm bildhaft in Erinnerung geblieben. Was hätte er in diesen Sekunden dafür gegeben, Iris durch das Plastik des Telefonhörers hindurch riechen zu können, dieses leicht herbe Aroma frisch geschälter Mandarinen, das sie stets umgab. Stattdessen fing sein Blick das Schwanken der Laternen unten auf derStraße ein, an denen der Nachtwind zerrte und die Lichtkreise auf den Bordsteinen tanzen ließ.
    Wie blitzende Eisenkugeln in einem Flipperautomaten schossen die Gedanken und Gefühle durch ihn hindurch, ruhelos und mit schmerzhaftem Drive. Und nichts deutete darauf hin, dass all die Kontakte und Bilder, die sie sinnloserweise in ihm auslösten, irgendeinen höheren Sinn ergaben. Dachte er eben noch intensiv an Iris, so flogen seine Gedanken schon in der nächsten Sekunde hinüber zu Johanna und zurück in die Vergangenheit und zu den gemeinsamen Tagen in der Ankergasse.
    Und das sah er, wenn er zurückblickte: Johanna, die in Shorts und kurzärmeligem Hemdchen im Garten saß, dessen entfesselte, sich gegen die ehemalige Friedhofsmauer drängende Brombeerbüsche ein undurchdringliches Gestrüpp bildeten und dem Ganzen etwas Verwunschenes gaben; Johanna, wie sie selbstgemachten Eistee trank und ihr feuchtglänzendes Gesicht mit geschlossenen Augen der gleißenden Sonne darbot.
    Wenn Ben an die Ankergasse dachte, dachte er an das häusliche Drama, das sich in all den Jahren dort ereignet hatte: Janeks unzählige Affären. Konrads von der Polizei zumeist jäh beendete Fluchten aus der Anstalt. Und nicht zuletzt an all die meist wortlos vor dem Fernseher verbrachten Abende: drei zu leblosen Fratzen erstarrte Gesichter im silbernen Flackern des Bildschirms. Oft lief der Fernseher, selbst wenn sie aßen. Und noch viel später glaubte Ben manchmal, das Geschnatter und Geklatsche von Quizshows in seinen Träumen vernommen zu haben, wenn er morgens erschöpft die Augen aufschlug, Gelächter aus der Konserve und all die Krimis mit ihren immergleichen Schießereien.
    In der Ankergasse, in die er voller Erwartungen gekommenwar, hatten sie ihn zu einem Feigling gemacht, so dass er sich bald nichts mehr zutraute und sich bereits fürchtete, wenn er in der hereinbrechenden Dunkelheit, vom Sportplatz kommend, allein durch das unbeleuchtete Gässchen an der Rückseite der Mittelstraße gehen sollte. Oder wenn Johanna ihn abends hinunter in den nach alten Kartoffeln und modrigem Holz riechenden, mit tausend dunklen Ecken lauernden Keller schickte, um Briketts zu holen.
    Noch viele Jahre später kamen ihm der Keller und die damit verbundenen Ängste manchmal in den Sinn, wenn er samstags auf dem Wochenmarkt am Freiheitsplatz stand, prüfend an einer Kartoffel roch und sogleich die vergessen geglaubten Erinnerungsbilder vor seinem inneren Auge abliefen. Dann wurden die Schrecken der Vergangenheit zu kurzen, intensiven Schrecken der Gegenwart, und Ben war momentlang wieder das fünfjährige Heimkind, das sich, nachdem es unerlaubt erst in der Dämmerung aus den nahen, hinter dem Haus schräg hinauflaufenden Weinbergen zurückgekehrt war, unter seinem Gitterbett versteckte, weil es den Zorn der Heimleiterin fürchtete.
    Das dämonische Echo ihrer bedrohlich widerhallenden Schritte hatte Ben ebenso wenig vergessen wie all die tausend Gerüche, an die seine Gefühle fortan gekettet bleiben sollten. Dann genügte bereits der flüchtig an seine Nase dringende süßlich-herbe Duft eines nass gewordenen Bretterzauns (an den er so oft mit geschlossenen Augen seine Nase gedrückt und dabei tief eingeatmet hatte), und die Erinnerungen an seine Heimzeit begannen in ihm aufzusteigen wie Kohlensäureperlen in einem Glas klarer Zitronenlimonade.
    Das Klacken des Wasserkochers weckte ihn aus seinen Gedanken. Er wandte den Blick von den nächtlichen Bordsteine ab, auf die inzwischen

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