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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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bitte!«, blaffte Ben. »Hilfst du mir? Ja oder nein?«
    »So geht das nicht, Ben!«, rief sie und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Du kannst mir doch nicht die Pistole auf die Brust setzen und erwarten, dass ich neunzigtausend Euro aus dem Hut ziehe! Für wen hältst du mich eigentlich?«
    Ben warf das Messer auf den Tisch und erwiderte: »Was soll ich denn machen? Meinst du vielleicht, mir fällt es leicht, dich um einen solchen Gefallen zu bitten? Weiß Gott nicht! Aber ich habe versprochen, alles zu versuchen. Und du bist seine letzte Chance!«
    »Ich? Wieso ausgerechnet ich?«, rief sie so laut, dass die Gäste am Nebentisch mit dem Reden und Essen innehielten und zu ihnen herübersahen. »Was habe ich mit deinem Bekannten zu schaffen?«
    Ben sah sie erbittert an: »Also wenn du es schon nicht für ihn tun willst, dann tu es in Gottes Namen für mich! Überleg es dir, Iris! Und zwar schnell!«
    Er sprang von seinem Sitz auf, riss seine Sporttasche und seine Jacke an sich und lief an ihr vorbei aus dem Lokal.
    Als er kurz darauf hinter dem Steuer seines Wagens saß, durch die nächtlich erleuchtete, kaum noch belebte Stadt Richtung Freiheitsplatz fuhr und am Straßenrand vereinzelt Paare sah, die vor den Schaufenstern standen und sich lachend umarmten und küssten, spürte er einen Stich in der Seite und konnte immer nur das eine denken: Lieber Gott, mach, dass sie mich anruft!
     
    Z wei Wochen nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte Johanna Paul Jansen geheiratet. Und trotz ihrer achtzig Jahre hatte sie das Gefühl, bloß die Hand ausstrecken zu müssen, um die Dinge, die sie damals umgaben, berühren zu können. Dann war es, als stoße ihr ausgestreckter Arm bis in die damaligewarme Abenddämmerung hinein, als sie nebeneinander auf dem Balkon ihres unverputzten Hauses auf der Hohen Tanne standen und die blauschwarzen Häupter der dicht stehenden Blautannen sich gegen den weiten, von purpurfarbenen Schlieren durchzogenen rosafarbenen Julihimmel abhoben.
    Paul Jansen war Angestellter der Deutschen Bank in Frankfurt gewesen, Leiter der Devisenabteilung, und in dem Sommer, als sie siebzehn geworden war, hatte sie ihn in der Bank kennengelernt. Sie hatte eine Lehre als Bankkauffrau in der Frankfurter Filiale am Rossmarkt begonnen, in der er arbeitete, und dort war er ihr eines Tages über den Weg gelaufen: Paul Jansen, ein etwas untersetzter Mann mit leicht hängenden Wangen, starkem Bartschatten, lichtem Haupthaar und kleinen traurigen Augen.
    Tatsächlich schien damals alles ziemlich traurig zu sein, wenn nicht gar hoffnungslos. Ihre Mutter Josephine war bettlägerig gewesen und hatte sich in die hermetische, von Kamillenduft und Franzbranntweingeruch geschwängerte Welt ihres abgedunkelten Schlafzimmers zurückgezogen, während der große und bis dahin schlimmste aller Kriege tobte. Trotzdem fühlte sie sich jedes Mal, wenn sie in jenem weit zurückliegenden Sommer morgens das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, wie von einem Joch befreit.
    In den folgenden Herbst- und Wintermonaten trafen sie und Paul sich immer wieder in Cafés rund um die Hauptwache oder zum Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn hinter dem Waldstadion. Überall in den Fensterkreuzen hingen die rotweißen Fahnen mit dem Hakenkreuz, durch die Straßen eilten im Stechschritt Trupps juveniler, streng frisierter Jungarier, die braune Uniformen und aufs Pflaster donnernde Stiefel trugen und den Anschein erweckten, als strebten sie schon damals allesamt höchstpersönlich jenen wegweisenden Unterredungenzu, in denen das bis dahin Undenkbare beschlossen und besiegelt wurde: das Schicksal jener sogenannten »Feinde unseres Volkes«, die seit September 1941 auf der linken Brusttasche weithin sichtbar den Davidstern als letztes Zeichen ihrer fortgesetzten Brandmarkung tragen mussten, zwei blau umrandete gelbe, zu einem Stern geformte Dreiecke, in deren Mitte in Form von vier Buchstaben das Wort Jude prangte.
    An eine ernsthafte, tiefer gehende Beziehung zu dem gutmütigen, stets etwas linkisch oder somnambul wirkenden jungen und gänzlich unpolitischen Paul Jansen aber, der wie willenlos der NSDAP beigetreten war und das Weltgeschehen als Ganzes scheinbar als gottgegeben akzeptierte, glaubte Johanna anfangs noch nicht. Es gefiel ihr, dass sie ihm gefiel, und irgendwie weckte dieser traurig dreinblickende Mann ihr Mitleid. Mehr aber auch nicht. Außerdem war da noch Georg Harlan, der ihr ebenfalls heftig Avancen machte, stattlich und stets

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