Die Ängstlichen - Roman
in ungleiche Hälften. Aus ihrer lecken Blase traten, sobald sie hustete oder sich auch nur räusperte, winzige Mengen Urin aus, so dass sie permanentfürchtete, von einer streng riechenden Wolke umgeben zu sein. Auch diesen Kampf, das wusste Johanna, würde sie am Ende verlieren, noch im Grab würden die Mikroben in ihren Eigenweiden hausen.
Nachdem sie sich ihr Nachthemd übergestreift und sich das Gesicht mit einem feuchtwarmen Lappen mehr abgetupft als gewaschen hatte, nahm sie ihre Prothese heraus, spülte sie unter dem laufenden Wasser ausgiebig ab (winzige Gurkenreste verschwanden mit den Wasserstrudeln im Abfluss gemeinsam mit den Apfelkernen, die sie den ganzen Abend gepiesackt und beim Zubeißen regelmäßig ein schmerzhaftes Knirschen verursacht hatten) und legte die beiden rosafarbenen Gebisshälften neben der Seifenschale auf den Rand des Waschbeckens. Als letztes rieb sie sich das Gesicht mit einer Feuchtigkeitscreme der Marke Biocura ein, fuhr sich kurz und oberflächlich mit der Drahtbürste durchs Haar und löschte, nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel, das Licht und ging zum Küchenschrank, um ihre Tabletten zu nehmen.
Am Vormittag war sie mit dem Bus in die Stadt gefahren und hatte beim Metzger (Metzgerei Brauss am Freiheitsplatz) Schweinefilet (für die klare Suppe mit Gurke), zehn Hühnerschlegel (für das Frikassee) und beim Bäcker (Bäckerei Hartstein in der Vorstadt) sechs Baguette-Weißbrote vorbestellt. Bis zur Zusammenkunft der Familie waren es keine sieben Tage mehr. Doch nun, da sie im Dunkeln in ihrem Bett lag und auf die Geräusche lauschte, die nur noch vereinzelt von der Straße hereindrangen, hatte sie andere Sorgen. Der Kummer engte ihre Brust ein und drückte so lange, bis sie zu weinen begann, in ihrer Not das Kopfkissen umklammerte und sich einen Zipfel in die Mund stopfte, um die Schluchzer zu ersticken. Irgendwann aber verließen sie schließlich ihre Kräfte, die Anspannung wich aus ihrem Körper, und Johanna sankerschöpft hinab in einen tiefen, traumlosen Schlaf, hinter dessen Tür alle Sorge und aller Schmerz wenigstens für eine Weile zurückblieben.
B en setzte Wasser auf, nahm die Teekanne, das Stövchen und den Edelstahlfilter aus dem Schrank, gab zwei gehäufte Teelöffel Roibos-Vanille in den Filter, zog das Teeglas aus der Spüle und wusch es kurz unter dem laufenden Wasser ab. Dann lief er hinüber ins Wohnzimmer, ohne Licht zu machen, und trat ans Fenster.
Seit er Iris mit seiner Forderung unter Druck gesetzt hatte, kam er sich vor wie ein Hamster in seinem Laufrad. Seine Nervenenden schienen leise, aber stetig zu vibrieren, er fühlte sich gehetzt, und der bakterizide, aus Salzsäure und dem Enzym Pepsin bestehende Saft in seinem Magen stieß ihm alle paar Minuten sauer auf. Hin und her gerissen zwischen Janek und dem Verlangen, Iris anzurufen, empfand er plötzlich selbst das sich steigernde Röcheln des Wasserkochers in der Küche als Zumutung. Gleichzeitig meldete sich eine andere Stimme in ihm, die zunächst leise und vorsichtig, schließlich vehement und unüberhörbar darauf drängte, Johanna anzurufen und ihr alles zu erzählen.
Doch der Weg zum Telefon blieb ihm, versperrt von seinem voreiligen Versprechen, das er Janek am Telefon gegeben hatte, verstellt. Erneut und wie schon so oft während ihrer gemeinsamen Jahre in der Ankergasse fühlte er sich von Janek missbraucht und zu etwas gezwungen, das ihm widerstrebte und das ihn, genau betrachtet, gar nichts anging. Mal war er unfreiwillig Zeuge geworden, wie Janek nachts auf einem Campingplatz in Jugoslawien ein halbes Dutzend Handfeuerwaffenvon einem Bärtigen namens Milan kaufte und anschließend im Kofferraum seines Wagens unter dem Ersatzrad versteckte, mal musste er, im Wagen sitzend, miterleben, wie er in eine Apotheke in Ostheim einbrach, um sich Morphium zu besorgen. (Er hatte bei heruntergedrehter Seitenscheibe mit klopfendem Herzen und seiner Trillerpfeife in der kleinen Hand im Wagen gesessen und heftig dagegen angekämpft, davonzulaufen. Jahrelang hatte Janek sich infolge eines Bandscheibenleidens Morphium gespritzt und war schließlich abhängig von dem Zeug geworden. Einmal hatte Ben ihn in seiner Werkstatt, bewusstlos und mit einem Lederriemen um den entblößten linken Arm auf dem Boden liegend, gefunden, neben sich eine Spritze und ein geöffnetes Lederköfferchen voller Ampullen.)
Soll er doch selbst sehen, wie er seinen Kopf aus der Schlinge zieht!, dachte Ben
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