Die Ängstlichen - Roman
ausgestoßen, alles weggeräumt und die Gabel und das Messer in der Spülmaschine verstaut hatte, begann Ben sich ein bisschen in der Wohnung umzusehen, ließ sich von Zimmer zu Zimmer gleiten wie ein Ahornblatt, das auf einem ruhig fließenden Gewässer langsam stromabwärts treibt.
Im Badezimmer fand er auf der Ablage zwischen den Tuben und Fläschchen Haarklammern und die Fotos, die sie unlängst in dem Schnellautomaten im Kaufhof gemacht hatten. Er hatte den kleinen Vorhang zugezogen, sich auf den Drehstuhl gesetzt und Iris in der engen Kabine auf den Schoß genommen. Feixend hatten sie Grimassen geschnitten und, sobald das Blitzlicht aufgeflammt war, lauthals gelacht. Hinterher hatten sie sich wie Kinder darum gebalgt, wer den Fotostreifen aus dem engen Schacht, aus dem er nach kurzer Wartezeit surrend hervorgekommen war, herausziehen durfte. Ben sah sich die Fotos lange an, löschte das Licht und glitt aus dem Bad.
In der Diele stieß er neben dem Telefon auf den Zettel, auf dem Iris sich die Zugverbindungen notiert und offenbar dort vergessen hatte. HU ab 9.42 – HH an 14.35 / HH ab 11.24 – HU an 16.24.
Ben nahm den Zettel, heftete seinen Blick sehnsüchtig an die aufgereihten Zahlen, faltete das Stück Papier und schob es in seine Gesäßtasche. Dann warf er einen Blick ins halbdunkle Badezimmer. Homer lag entspannt im Stroh, alle viere vonsich gestreckt wie ein nach oben gespülter, reglos auf der Meeresoberfläche treibender Tiefseetaucher. In seinen feuchtglänzenden schwarzen Augen spiegelte sich als Zerrbild Bens Silhouette, so dass er sekundenlang das irritierende Gefühl hatte, in einen engen, schlecht beleuchteten Schacht zu blicken, in dem er sich selbst liegen sah. Mit der Fußspitze zog er die Tür bis auf einen Spalt zu, drehte sich um und ging ins Schlafzimmer.
Alles atmete eine intime Vertrautheit, so als habe Iris eben kurz das Zimmer verlassen, um im nächsten Moment zu ihm zurückzukehren. Sein Blick glitt über das riesige Wyeth-Poster über dem Bett und die aufgeschlagene »Petra« auf ihrem Nachttisch, die neben einem seiner »Silver Surfer«-Hefte lag, weiter zu den bestickten blauen Kissen und hin zu ihren Schals und bunten Seidentüchern, die sie wie Wimpel um die Bettpfosten des Kopfteils gebunden hatte.
Ben löschte das Deckenlicht, knipste stattdessen das Nachttischlämpchen an und las geistesabwesend in dem Comic. Dann schlug er die karierte Tagesdecke zurück, warf sich aufs Bett und drückte sein Gesicht in das Laken. Mit geschlossenen Augen sog er den Geruch ein, so tief er konnte. Minutenlang presste er sein Gesicht in den Stoff, schluckte ein paarmal, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
In der Wohnung war es, abgesehen vom leisen Summen des Kühlschranks in der Küche und den Geräuschen, die von Zeit zu Zeit aus dem Bad herüberdrangen, vollkommen still. Doch je länger er in die nächtliche Stille horchte, desto mitteilsamer erschien sie ihm, erfüllt vom Flüstern unverständlicher Stimmen, von zahllosen geheimnisvollen Botschaften. Bis ihm das womöglich auch nur eingebildete Säuseln zu viel wurde, er sich aufschwang, die Türen ihres sandfarbenen Kleiderschranks aufriss und wahllos Kleidungsstücke von den Bügelnzu ziehen begann, Röcke, Blusen, Jacken und Mäntel. Irgendwann sank er erschöpft über dem riesigen Kleiderberg neben dem Bett zusammen und kam sich vor wie ein rebellierender Häftling, der sich an den Wänden seines eng begrenzten Gevierts das Gesicht blutig geschlagen hatte.
Später, nachdem er die zweite Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt und im Liegen, mit einem von Iris’ Büstenhaltern in der Hand, geleert hatte, wälzte er sich langsam aus dem Bett, stieg über die auf dem Boden verteilten Kleider und lief in den Flur (ihren BH hatte er sich wie eine Stola locker um den Hals gelegt).
Dort nahm er den Hörer des Telefons, ließ wie ein Pianist vor dem ersten, alles bestimmenden Anschlag die andere Hand auf die Tastatur sinken und wählte Iris’ Handynummer. (Sein eigenes Handy hatte ihm sein Anbieter gesperrt.)
Als wieder nur ihre Mailbox ansprang, war er zuerst versucht, wortlos aufzulegen, presste dann aber doch den Hörer ans Ohr und sagte, nachdem das Signal zur Aufnahme ertönt war: »Ich bin in deiner Wohnung und warte auf dich!«
Danach kehrte er ins Schlafzimmer zurück, ließ sich müde aufs Bett fallen, zog aus dem Durcheinander von Kleidungsstücken die geblümte Bluse hervor, die Iris bei ihrem ersten
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