Die Ängstlichen - Roman
Sicherheitsschlösser einzubauen.
Altkesselstadt erlebte einen grundlegenden Wandel der Kultur, und wo einst Bäckerstöchter und Beamtensöhne »Schellekloppe« und »Gummitwist« gespielt hatten und aus den offenen Fenstern der Mittelstraße Gerüche aufgestiegen waren, die dem Straßenzug unter Anwohnern den liebevollen Beinamen »Klein-Barcelona« eintrug, parkten neuerdings geklaute Autos und frisierte Motorräder. (Und so erinnern sich nur noch jene an Läden wie Helfrichs »Gemüseladen«, den »Konsum« oder die »Bäckerei Stock«, die einmal das Privileg genossen, in der Mittelstraße oder in der Hintergasse zu Hause zu sein, bevor die Stadtverwaltung mit deren systematischer Unterhöhlung begann.) Inzwischen aber sah man dort nicht ein Kind auf der Straße, und nicht ein Hund bellte, Grabesstille. Das alles ließ sich auf der Fahrt in Richtung Ankergasse »bewundern«, wenn man mit seinem Wagen die Mittelstraße hinaufkroch und sein Ziel vor Augen hatte. Wer allerdings auf der Durchreise war in eine wichtige Metropole wie Frankfurt oder in das zwar kleinere,jedoch ungleich mondänere Wiesbaden und dabei die saubere Luft dieses einst berühmten Kurorts im Sinn hatte, der hatte Hanau mit seinen rauchenden Schloten rund um das Dunlop-Gelände bald wieder vergessen.
Als Ulrike Taubitz in diesen Minuten mit ihrem nachtschwarzen Golf GTI in Hanaus westliche Peripherie vorstieß, wo sich die Turnhalle der Otto-Hahn-Schule ins Bild schob, und sie sich via Kastanienallee und Bienengasse der Ankergasse näherte, begann ihr Handy zu klingeln. Mit einem gezielten Griff in ihre auf dem Beifahrersitz liegende Handtasche packte sie es und drückte es sich ans Ohr.
»Rainer?«, rief sie mit klopfendem Herzen. Doch statt der Stimme ihres Mannes vernahm sie Brittas Organ.
»Ich bin’s!«, schallte es ihr mit enervierender Fröhlichkeit entgegen.
»Ach du?«, sagte Ulrike und spürte, wie etwas in ihr zusammenfiel. Sekundenlang fühlte sie sich kraftlos. (Im nächsten Moment sehnte sie sich nur noch danach, das alles hinter sich zu lassen, endlich alt zu sein, sich, auf einen Stock gestützt, herumzuschleppen, in der Sonne zu sitzen und sich in Sicherheit zu wissen vor den Kümmernisssen des Lebens.)
»Wir sind auf dem Weg zum Flughafen, Klaus hat mir eine Woche Mallorca geschenkt, einfach so, stell dir vor!«, rief Britta.
»Wie schön«, sagte Ulrike, es kam mit leichter Verzögerung. Und dabei dachte sie: Ja, lasst mich nur alle allein!
»Ist was mit dir?«
»Nein, nein. Es ist bloß … also ich …«
»Was ist denn? Na, nun sag schon!«
»Ach, nichts!«, wiegelte Ulrike halbherzig ab und sah wieder vor sich, wie sie im Keller vor der verschlossenen Tür gestanden und Rainer angefleht hatte herauszukommen. »Alles bestens, wirklich!«
Dabei spürte sie, dass es ihr im Grunde egal war, was Britta jetzt über sie dachte. Genau betrachtet, war es ihr schon immer egal gewesen. Außerdem spürte sie, dass sämtliche Dämme brechen würden, wenn sie Britta auch nur ein Wort erzählte.
»Ich melde mich, wenn wir gelandet sind, okay?«, rief Britta, was aufmunternd klingen sollte, und Ulrike konnte im Hintergrund schwach hören, wie Klaus sagte: »Was hat sie denn wieder?«
»Nein, lass mal«, entgegnete Ulrike barsch. »Entschuldige, aber ich muss jetzt Schluss machen. Also dann!« Dabei warf sie bekümmert einen Blick in den Rückspiegel, um ihr Aussehen zu prüfen.
Während sie ihren Wagen parkte, ausstieg und auf das mit hellen Schindeln verkleidete Haus mit der Nummer 10 zulief, beschlich sie, sie hatte sich gerade wieder ein wenig gefangen, ein neuerliches Unwohlsein, das sich mit jedem Schritt, dem sie dem Gebäude näher kam, verstärkte. (Der von mannshohen kalkfarbenen Mauern verborgene Garten, der das Haus umschloss, hatte den Kesselstädtern einst als Friedhof gedient. Und manchmal hatte Ulrike, wenn sie als Kind zwischen den angelegten Blumenbeeten und den Gewächshäusern, die sich später die frei laufenden Hühner eroberten, herumsprang und plötzlich innehielt, daran denken müssen, dass tief unten, in der Erde, die Gebeine irgendwelcher Fremder lagen, was ihr sekundenlang eine herrliche Gänsehaut bescherte.)
Von der Ankergasse aus war sie ausgezogen, um sich ein eigenes, besseres Leben zu erobern, das das Gegenteil von dem sein sollte, was Johanna für das Leben hielt. Sie hatte eine Stelle als Reiseleiterin bei einem Reiseveranstalter namens »Mango Reisen« (sie sprach fließend spanisch)
Weitere Kostenlose Bücher