Die Ängstlichen - Roman
kleiden (ja, er lechzte nach Widerspruch).
Er hätte Abitur machen sollen, dachte Ulrike verdrossen, vielleicht wäre er so weniger verbissen geworden. (Sie war genervt von seinem Geschimpfe auf Akademiker und hatte sich im Vorfeld geschworen, Themen wie Politik, Kultur und Gesellschaft weiträumig zu umgehen. Alles andere führte unweigerlich zu einer seiner Schmähreden gegen die Regierung Schröder und deren angeblich verfehlte Ausländerpolitik. Schlagworte wie »Zustrombegrenzung« und »Abschiebung« gingen ihm so genüsslich über die Lippen wie einem Priester sein »O Herr, erhöre uns«.)
Ulrike begann leicht zu schwitzen und forschte beiläufig in ihrer Handtasche nach einem Tuch. Die Vorstellung, im Angesicht ihres Bruders ein von ihrer Mutter wie üblich in die Länge gezogenes Drei-Gänge-Menü über sich ergehen lassen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu.
U nterdessen war es Ben gelungen, sich seine Socken anzuziehen. Das Tein hatte für eine spürbare Aufklärung seiner vernebelten Sinne gesorgt, und so saß er in der Tiefgarage in seinem Wagen und band sich umständlich die Schuhe zu. Dann schwang er die Beine über den Schweller, zog die Fahrertür zu und angelte nach dem Sicherheitsgurt. Und als er den Zündschlüssel umdrehte und der Motor mit einem trockenenHusten ansprang, dröhnte kurz darauf Dusty Springfields »In Private« aus den Lautsprechern.
Ben legte den Rückwärtsgang ein und trommelte beschwingt auf das Lenkrad. Und nachdem er die Plastikkarte in dem Automatenschlitz kurz versenkt und wieder herausgezogen hatte und die Schranke sich hob, tauchte er mit einem Kickstart an die eine Sekunde lang blendend helle Oberfläche.
Ein Schleier lag über der Straße, Rollsplitt knirschte unter den Reifen und schlug prasselnd gegen die Radkästen, während die voll aufgedrehte Lüftung beißenden Teergeruch hereinbrachte. Er versuchte sich auf den Verlauf der Straße zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er drückte die Springfield-Kassette heraus und schob stattdessen »Even In The Quietest Moments« von Supertramp in den Recorder. »Give A Little Bit« drang aus den Lautsprechern, und Ben musste an das Supertramp-Konzert in Frankfurt denken, das er vor Jahren gemeinsam mit Kaplan besucht und von dem er Iris begeistert erzählt hatte. Sofort überkam ihn wieder ein Hauch von Wehmut. Denn was hätte er dafür gegeben, ihr näher sein zu können. Ein kleines bisschen wenigstens.
Ben lenkte den Wagen an der Rosenau vorbei Richtung Kesselstadt und ließ den Sportplatz des VFR links liegen, bog irgendwann in die Mittelstraße ein und parkte seinen Wagen direkt hinter Ulrikes schwarzem Golf.
N icht dass Helmut etwas gegen Gemüse gehabt hätte, im Gegenteil: Er liebte Blumenkohlsuppe, beging Morde für mit einer Goldparmäne und einem Schuss Balsamico veredeltesRotkraut und starb für Tomaten (vor allem in Soßenform). Gemüse in seiner rohen Form allerdings mied er, wo er konnte. Rohes Gemüse war schlecht zerkaubar, lag schwer im Magen und verursachte ihm Blähungen. Und so starrte er die vor ihm auf dem Tisch stehende Rohkostplatte an wie etwas, das er am liebsten augenblicklich per Knopfdruck hätte verschwinden lassen. Und während Ulrike sich von der in Splinte, schmale Dreiecke und leuchtend orangefarbene Blöcke geschnittenen Rohkostvariation bediente und sich je einen ordentlichen Klecks des Käse- und des Gemüsedips auf ihren Teller klatschte, schenkte Helmut ihnen Weißwein ein und nahm sogleich einen tiefen Schluck. An Ulrike gerichtet, sagte er: »Wie geht’s eigentlich meinem Schwager, dem Herrn Generaldirektor?« (So nannte Helmut Rainer süffisant, seit er dessen kometenhaften Aufstieg vom kleinen Angestellten bei Dunlop zum Manager bei »Fulda-Reifen« aus der Halbdistanz mitverfolgt hatte.)
Doch diese Frage traf Ulrike so unvorbereitet, dass sie entsetzt mitten im Kauen innehielt und spürte, wie sich Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand unkontrolliert in dem Weißbrotstück, das sie hielt, verkrallten. Sie blinzelte ein, zwei Mal, um Zeit für eine passende und möglichst wenig verräterische Antwort zu gewinnen. Schließlich gelang es ihr, das angebissene Stück Brot ungefährdet an ihrem Weinglas vorbeizumanövrieren und auf dem goldenen Tellerrand abzulegen. Und nachdem sie die Gabel auf der gegenüberliegenden Seite platziert und sich den Mund mit der Serviette abgetupft hatte, holte sie tief Luft und sagte: »Also, sehr gut
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