Die Ängstlichen - Roman
Ulrike, die ein Niesen erfolgreich unterdrückte.
»Ach woher!«, posaunte Helmut und atmete gravitätisch ein. »Falscher Alarm!«
Mehr ließ er sich momentan dazu nicht entlocken. (Typisch Helmut, dachte Ulrike: Er wird sein Pointenfeuerwerk doch nicht jetzt schon abbrennen, sondern damit warten, bis sein Publikum groß genug ist.) Johanna hatte unterdessen die beiden Sträuße versorgt und war offenbar ins Wohnzimmer verschwunden.
»Mutter!«, rief Ulrike wie um Hilfe und setzte alles daran, ihrer Lage, so eingeklemmt und an die Kante der Spüle gedrückt, zu entkommen.
»Weißt du, wer sonst noch kommt?«, fragte Helmut und machte noch immer keinerlei Anstalten, ihr den Weg in Richtung Wohnzimmer frei zu machen.
»Keine Ahnung.«
»Weißt du, was sie im Schilde führt?«
»Äh, darf ich mal?«, ächzte Ulrike und schob sich endlich erfolgreich an ihrem breitbeinig dastehenden Bruder vorbei. Doch bereits diese ersten Mühen hatten der Spannkraft ihrer Föhnfrisur geschadet, und Ulrike glaubte ein gewisses Abrutschen ihrer zusätzlich mit ein wenig Festiger bearbeiteten Locken und Strähnen in Richtung Ohrläppchen zu verspüren.
Blödmann, dachte sie und stahl sich, ohne Helmut weiter zu beachten, rasch in Richtung Wohnzimmer davon. Kurz darauf standen sie zu dritt darin.
»Wen erwartest du noch?«, fragte Helmut, an Johanna gerichtet (es sollte möglichst beiläufig klingen), und trat ans Fenster, wo er den Vorhang ein Stückchen beiseiteschob.
»Eri hat abgesagt, und da Rainer und die Kinder nicht kommen, bleiben nur noch Ben und seine Freundin«, sagte Johanna und begann lautlos zu schluchzen.
Ulrike trat ihr zur Seite, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte: »Du weinst wegen Janek, nicht wahr?«
»Mhm!«, machte Johanna nickend und wischte die ersten Tränen weg.
»Ach, es ist schlimm«, sagte Ulrike und blickte hilfesuchend zu ihrem Bruder, der seinerseits die Gedecke und die auf dem alten Servierwagen (den Johanna unter größten Anstrengungen aus dem Keller heraufgeholt hatte) stehenden kalten Platten und in weißen Schälchen leuchtenden Dips argwöhnisch inspizierte.
»Das da sieht aber lecker aus!«, sagte Helmut, weil ihm die Situation peinlich war und er seiner Mutter ein Kompliment machen wollte.
»Es gibt Hühnerfrikassee mit Salzkartoffeln und Möhren-Kohlrabi-Salat und zum Nachtisch Mohnbuchteln mit Weinschaumsauce. Vorher Brühe mit Schweinefilet und Gurke«, sagte Johanna mit erstickter Stimme und hantierte mit einemzu einer kleinen Kugel zerdrückten Tempotuch. »Aber setzt euch doch!«
»Dass man Janek noch nicht gefunden hat, ist ein gutes Zeichen, glaub mir«, sagte Ulrike, die sich ihrem Bruder, der bereits auf der Couch Platz genommen hatte, schräg gegenübersetzte.
«Meinst du?«, erwiderte Johanna kleinlaut und so ungläubig wie ein elfjähriges Mädchen, dem seine Eltern erfolglos die Existenz des Osterhasen einzureden versuchen.
»Aber ja«, insistierte Ulrike, erhob sich wieder und stellte die Rohkostplatte und die Dips auf den Tisch. »Das glaubst du doch auch, nicht wahr?«, sagte sie, an Helmut gerichtet.
Der saß versunken auf der Couch und antwortete nach einer kurzen Pause, bei seiner Abwesenheit ertappt: »Wie? Äh, ja sicher! Genau, wie du sagst!«
»Es ist jetzt fast halb vier, meinst du wirklich, dass Ben und seine … Freundin noch kommen?«, sagte Ulrike, die wieder Platz genommen hatte.
»Der hat’s bestimmt vergessen, wie üblich!«, kommentierte Helmut.
»Nein, die kommen!«, erwiderte Johanna herrisch und lief in die Küche, um den Weißwein, einen süffigen 2002er Chardonnay-Sauvignon der Marke Côte Tariquet (französischer Landwein zum stolzen Preis von 8 Euro 90 pro Flasche), aus dem Kühlschrank zu nehmen. Als sie mit der Flasche in der Hand zurückkam, sagte sie: »Vor Aufregung habe ich die halbe Nacht nicht geschlafen.«
»Na, was gibt es denn so Aufregendes? Hm?«, sagte Helmut jovial, lehnte sich zurück und verschränkte erwartungsvoll beide Arme hinter dem Kopf.
Ulrike konnte sich unterdessen nur darüber wundern, wie ihr Bruder gekleidet war, knallbunt wie ein Papagei: Aus einemkirschroten Pullover ragte ein lindgrüner Kragen, einfach unmöglich. Aber in ihren Augen hatte ihr Bruder ja noch nie über so etwas wie Stil verfügt, ganz im Gegenteil: Alles, was er tat und von sich gab, war einem tief sitzenden Minderwertigkeitsgefühl geschuldet, so dass ihm jede Geste zur Provokation geriet, bis hin zu seiner Art, sich zu
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