Die Ängstlichen - Roman
angenommen, der sich auf Busreisen nach Katalonien und Andorra spezialisiert hatte und sie hinausführte in eine Welt, die endlich nicht mehr Hanau hieß.
Natürlich hatte sie auch schöne Zeiten hier erlebt, das erste Verliebtsein (in Heinz Novak), das eigene Zimmer, in dem sie stundenlang sitzen und Mozarts »Entführung aus dem Serail« hören konnte und wo sie Hermann Hesses Romane verschlang, »Unterm Rad« und das »Glasperlenspiel«. Doch dann war ihr Vater Paul krank geworden, und Ulrike begriff, dass damit eine neue Zeitrechung anbrechen würde und allen schwierige Jahre bevorstanden. Also beschloss sie, nach Spanien zu gehen und das Kapitel Ankergasse 10 zu beenden. Jahre darauf lernte sie dann auf einem Maskenball Rainer Taubitz kennen. Prompt wurde sie schwanger, und das in der Friedenskirche frisch getraute Paar zog wenig später in die erste gemeinsame Wohnung in der Schwedenstraße.
Und nun stand sie wieder verzweifelt und niedergeschlagen vor der Tür ihres Elternhauses. Rainer war im Begriff, ihr Leben und das der Kinder zu zerstören, und trotzdem war sie der Vorladung ihrer Mutter gefolgt. Weshalb eigentlich? Um Zeit zu gewinnen? (Doch wofür?) Aus Pflichtbewusstsein? Oder bloß, weil sie sich zu schwach fühlte, um zusätzlich all das auszuhalten, was ihr ein Fernbleiben unweigerlich eingebracht hätte?
Sie gab sich einen Ruck, atmete tief durch (sie stand ja bereits im Hof und konnte kaum wieder umkehren, denn sicher hatte Johanna, die garantiert am Fenster wartete und ungeduldig hinausspähte, sie bereits gesehen) und drückte den Klingelknopf.
Eine Zeitlang geschah überhaupt nichts, dann wurden im Hausflur Geräusche laut, die Tür ging auf – und Johanna erschien im Rahmen!
»Du? Wie schön!«, rief sie, machte einen Schritt auf ihre Tochter zu und fuhr ihre beiden arthritisch verformten Arme wie Greifwerkzeuge nach ihr aus.
Weil ihr aber sowohl die Kraft als auch die Fähigkeit fehlten,dahinzuschmelzen im Arm ihrer Mutter, beließ Ulrike es bei einem kurzen Wange-an-Wange-Drücken. Dann machte sie sich los und sagte, sowohl pflichtgetreu als auch erwartungsvoll: »Also, Mutter! Da bin ich!«
»Na, nun komm schon rein!«, sagte Johanna, drehte sich um und ging in die Küche. Ulrike schloss die Tür und trug die Blumen (schneeweiße und bereits leicht mitgenommene Tulpen, die sie eilig in der Raststätte in Wächtersbach besorgt hatte) wie einen zu vergebenden Trostpreis (für das Fernbleiben der anderen) vor sich her.
»Blumen, ach wie schön!« Johanna mochte Tulpen nicht, hatte Ulrike das etwa vergessen?
»Ich bin doch nicht etwa die Erste?«, sagte Ulrike ein wenig ungläubig und schälte sich, nachdem sie ihre Handtasche (von Strenesse) auf einem der Küchenstühle abgestellt hatte, langsam aus ihrem dunklen Strenesse-Mantel. (Na und, sie liebte diese Marke eben! So etwas nennt man »Stil«.) Sie hatten kaum Zeit, ihre Anfangspositionen in ihrer kleinen, hinreichend bekannten Mutter-Tochter-Inszenierung einzunehmen, als es erneut klingelte.
»Hier, mach du das!«, sagte Johanna, drückte Ulrike eine Vase in die freie Hand und lief zur Tür.
»Du, Helmut, wie schön!«, war Johanna im Hausflur zu hören, worauf Ulrike spontan dachte: Sie muss die Begrüßungsformel auswendig gelernt haben!
Das Rascheln von Papier erklang, ein kurzes, trockenes Gelächter, und Helmut, ihr Bruder, stand lebensgroß in der Küche und rief: »Tag, Ulrike, wie geht es dir?«
Helmut streckte Ulrike seine rechte Hand hin (denn sie hatten beide von jeher peinlich darauf geachtet, körperliche Begegnungen zu vermeiden). Ein kurzes, unverbindliches Händeschütteln folgte (wie zwischen zwei Geschäftspartnern,die möglichst schnell zur Sache kommen wollen), und die erste Klippe dieses – wie sich später herausstellen sollte – denkwürdigen Nachmittags war genommen.
»Gut! Und dir?«, log Ulrike, die unweigerlich an Rainer denken musste und an das, was sie bei ihrer Rückkehr erwartete. Außerdem ärgerte sie sich noch über das dumme Telefonat mit Britta.
»Man lebt«, erwiderte Helmut und saugte kurz an seiner Unterlippe. In unsichtbaren Wellen spielte Ulrike sein süßlich-herbes Aftershave um die Nase. (Er benutzt immer noch dieses grässliche Zeug, wie heißt es doch gleich? Tabak Original? Hattrick for Men?, dachte sie und wäre am liebsten einen Schritt zurückgetreten, doch er hatte sie bereits eingekeilt zwischen Tisch und Spüle.)
»Du warst im Krankenhaus? Was Ernstes?«, fragte
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