Die Ängstlichen - Roman
eigentlich! (Sie versuchte, möglichst gelassen zu wirken, und lächelte gequält.) Er ist nur im Moment, wie soll ich sagen, leicht gestresst und fühlt sich nicht so gut, na ja, deshalb ist er auch nicht, äh, mitgekommen. Dabei wäre er so gerne … aber es gibt eben immer so Phasen, du kennst das ja …«
»… das kann man wohl sagen!«, fiel Helmut ihr ins Wort und nahm den ihm zugespielten Ball dankbar auf. »Aber Gott sei Dank ist das ja vorbei. Da könnte ich dir Sachen erzählen, Schwesterherz, aber … ach, lassen wir das lieber.«
Im selben Moment sprang Johanna, die ihnen bis dahin aufmerksam zugehört hatte, auf. »Es hat geklingelt!«, rief sie. »Das werden Ben und seine Freundin sein.« Sie legte ihr Besteck lautlos auf die Serviette neben ihrem Teller und lief hinaus in die Küche.
»Ben, wie schön, dass du endlich kommst!« Sie hatte sich tatsächlich überlegt, wie sie ihre Gäste begrüßen würde, und nahm ihren Enkel in den Arm. Sie hielten sich lange aneinander fest. Dann lösten sie sich, und Johanna sagte: »Aber wieso ist deine Freundin denn nicht mitgekommen.«
»Frag lieber nicht!«, antwortete Ben, rollte vielsagend die Augen und schlüpfte an seiner Großmutter vorbei ins Haus. »Aber sie lässt dich unbekannterweise grüßen.«
»Danke«, erwiderte Johanna schwach, die sich, während sie hinter ihrem Enkel herlief, eingestehen musste, dass aus ihrer geplanten Abschiedsvorstellung am Ende ein Beisammensein im denkbar kleinsten Kreis geworden war. Enttäuscht ließ sie, als sie wieder ihren Platz an der ursprünglich für elf Personen geplanten Tafel eingenommen hatte, ihren Blick über die frei gebliebenen Stühle wandern. Bis sie an jenem Platz am Tischkopf innehielt, den sie gegen alle Vernunft für Janek eingedeckt hatte.
»Was trinkst du?«, richtete Helmut die Frage an seinen Sohn, der sich unmittelbar neben ihm auf der Couch niedergelassen hatte. »Einen Schluck Wein?«
»Nein, lieber Wasser!«, antwortete Ben und angelte nach einer Scheibe Weißbrot.
»Du hast eine neue Freundin?«, murmelte Ulrike mit halbvollemMund und vorgetäuschtem Interesse, um das Gespräch von sich und vor allem von Rainer abzulenken. Dabei balancierte sie ein Karottenkarree, dessen eine Seite sie schwungvoll in den Kräuterdip getaucht hatte, vorsichtig über den lauernden Abgrund zwischen Tischplatte und der Stelle, an der ihr Rocksaum begann. Anschließend vollführte sie auf Höhe ihres leicht geöffneten Mundes eine elegante Rechtsdrehung und ließ, nachdem sie zuvor mit einem Schluck Weißwein die Reste im Mund hinuntergespült hatte, das orangefarbene, mit einer grünweißen Quarkhaube versehene Karree in der dunklen Höhle ihres Rachens verschwinden.
Ben überlegte, wie er diese Frage beantworten sollte, und sagte schließlich: »Ja, sie heißt Iris und ist Bankangestellte.« (Bewusst verschwieg er, bei welcher Bank sie arbeitete, denn seinem Vater war es durchaus zuzutrauen, dass er hinging, um sie sich einmal ungestört anzusehen.)
»Schade, dass sie nicht mitgekommen ist«, sagte Ulrike und umklammerte ihre Serviette mit der linken Hand.
»Ja, wir hätten gern mal die Frau zu Gesicht bekommen, die dich davon abhält, einem ordentlichen Beruf nachzugehen«, sagte Helmut.
»Was soll denn das?«, ging Johanna energisch dazwischen. »Der Junge ist ja wohl alt genug, selbst darüber zu entscheiden, wie und mit wem er sein Leben verbringt.«
Ulrike, die ihre Vorspeise beendet hatte, war unterdessen aufgestanden, um die Teller abzudecken.
»So, ist er das?«, ließ Helmut nicht locker und spielte an seinem Weinglas herum.
»Ja, das ist er, und nun Schluss!«, blieb Johanna hart, die ahnte, welchen Verlauf dieses Geplänkel zwischen ihrem Sohn und ihrem Enkel nehmen würde, wenn sie das Steuer nicht rechtzeitig herumriss. (Die beiden an einem Tisch zu habenbedeutete, dass einer von ihnen früher oder später wutentbrannt aufsprang und hinauslief. So war das immer gewesen. Und noch eine Person weniger an ihrer Tafel konnte sie heute nicht mehr verschmerzen.)
Als sie kurz darauf ihre Suppe löffelten, hatte es noch immer keiner gewagt, sie nach dem Anlass für ihre Zusammenkunft zu fragen. Und so fasste sich Ben schließlich ein Herz, legte den Löffel in die leere Schale und sagte: »Na, dann schieß mal los, Johanna! Weshalb hast du uns herbestellt?«
Daraufhin blickte Helmut seinen Sohn auf eine solch geringschätzige Weise an, dass Johanna nicht anders konnte, als einmal tief Luft
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