Die Ängstlichen - Roman
zweimal pro Woche durch aufreibende Muskelaufbauprogramme in den Verliesen des Fitnesscenters seines Vertrauens quälte, um dem beginnenden Verfall seines eigenen Körpers Einhalt zu gebieten, sich als Perfektionist verstand, verlangte er von seiner Frau irgendwann den gleichen Einsatz. So musste Ulrike nach achtundzwanzig Ehejahren überrascht feststellen, selbst physiognomisch nicht mehr an jene junge, freiheitsliebende Frau zu erinnern, die sie einmal gewesen war. Was sie vielmehr sah, war das Ergebnis eines von langer Hand geplanten, doch irgendwie fehlgeschlagenen Totalumbaus. Nicht einmal die Fassade hatten Rainers Handlanger stehen lassen wollen. Ihre einst imposante Nase hatte sie sich auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin verkleinern lassen und litt seither an ständig wiederkehrenden Nebenhöhlenvereiterungen. Ihre von Absauggeräten heftig traktierten Oberschenkel waren zwar weniger füllig als früher, dafür aber gezeichnet von zahllosen kleinen Dellen. Und das Facelifting zeigte erste Spuren von optischer Rückkoppelung: Ihre behandelten Augenlider wiesen die alte Trägheit auf und gehorchten wieder mit beschämender Offensichtlichkeit der Erdanziehungskraft. Doch für Rainer spielte es keine Rolle mehr, ob Ulrike verführerisch auf ihn wirkte oder nicht. Sie war die perfekte dreisprachige Ergänzung zu ihm (Ulrike sprach fließend Spanisch, Französisch und Englisch) und eine unverzichtbare Assistentin bei seinem Balanceakt auf der Karriereleiter. Was spielten da die Größe oder die Form ihrer Brüste noch für eine Rolle? Dafür waren längst andere im »System Rainer« zuständig. Ulrike zog für ihn die Fäden, entwarf Schlachtpläne und feilte beharrlich an seinem Aufstieg. Denn wo Rainer, der in Abendkursen das Abitur nachgeholt, per Fernstudium sein Betriebswirtschaftsstudium in Rekordzeit absolviertund es vom mittleren Angestellten zum Finanzvorstand eines weltweit operierenden amerikanischen Reifenkonzerns mit Zuständigkeit für Gesamteuropa gebracht hatte, eine gewisse Hemdsärmeligkeit an den Tag legte (das hatte er sich bei den von ihm für ihre Direktheit bewunderten US-Boys abgeschaut), brillierte Ulrike unverändert mit Esprit und strategischer Weitsicht. (Ja, sie war sein Frühwarnsystem, das im Gegensatz zu ihm bereits allerfeinste geschäftsklimatische Veränderungen und atmosphärische Störungen zu registrieren imstande war.) Außerdem war da nach wie vor diese unschöne Sache, die, von ihnen gemeinsam tief in die untersten Regionen ihres Ehelebens versenkt, vor sich hin strahlte, einer tickenden Zeitbombe ähnlich, die mit angeblich strahlungssicherem Dämmmaterial zugeschüttet war. So gesehen, hatte Ulrike Rainer in der Hand. Ein Wort von ihr zu den entsprechenden Leuten im Konzern, und Rainer war erledigt. (Genau deshalb verschwendete er nicht einen Gedanken daran, sie zu verlassen, sondern betrog sie stattdessen.) Hinterhältigkeit gehörte allerdings nicht zu Ulrikes primären Charaktereigenschaften. Im Bedarfsfall jedoch, aus Selbstschutz sozusagen, konnte sie Rainer durchaus hin und wieder daran erinnern, welch dunkles Geheimnis sie mit ihm teilte. Sie war es gewesen, die ihn indirekt die Karriereleiter hinaufgeschubst hatte. Und an ihr war es unter Umständen, ihn von dort oben wieder herunterzuholen. Doch Ulrike war natürlich klug genug, nicht an dem Ast zu sägen, auf dem sie saß. Sie verfolgte die Bewegungen ihres Mannes mit lässiger Genauigkeit, ließ ihn bewusst da und dort selbstherrlich gewähren. Eines aber würde sie ihm nie verzeihen: außereheliche sexuelle Beziehungen, einen Seitensprung, Betrug.
Auch wenn im Hause Taubitz Sex inzwischen eine untergeordnete Rolle spielte, so war Ulrike dennoch nicht gewillt, dieses Untergeordnete mit einer anderen zu teilen. Diese paarMinuten mit Rainer gehörten ihr ganz allein, und wer es wagte, ihr diesen Teil an ihm streitig zu machen, gegen den fuhr sie schwere Geschütze auf. Rainer seinerseits konnte auf Ulrikes Verschwiegenheit zählen, und trotz aller Eskapaden, die er sich mit steigender Frequenz leistete, war Ulrike der einzige Mensch auf Erden, dem er uneingeschränkt vertraute. In Rainers Augen bildeten sie eine bestens funktionierende Zweckgemeinschaft. Und zu welch außerordentlichen Reaktionen sie fähig war, sofern sie Verrat an ihrer Person witterte, hatte er mehr als einmal erleben müssen. Ihre Eifersucht war geradezu legendär. Also achtete er peinlich genau darauf, ihr diesbezüglich keinerlei
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