Die Ängstlichen - Roman
und klopfte dabei mit der Hand ein paarmal sanft auf den Platz neben sich. Wortlos sank er hinab. Im selben Moment zog sie ihn zu sich hin. Sekundenlang ließ er es geschehen, dann griff er nach ihrem Arm, und sagte: »Du bist lieb, aber lass uns einfach nur so liegen, okay?«
Am liebsten hätte er ihr auf der Stelle von dem erzählt, was mit ihm war. Doch stattdessen schlug er nur wortlos die Beine übereinander, die seine Schuhe schwer nach unten zogen, und schloss die Augen.
»Wie du willst«, drang es aus der Dunkelheit an sein Ohr. Und dabei spürte er, wie sich ihre Hand, dieses kleine, wendige Tierchen, langsam und zielsicher über seinen Bauch hinab zu seinem Hosenbund bewegte.
»Nein, lass bitte!«, sagte Helmut energisch und griff nach ihrer Hand. Wie ein Schulkind, das ein anderes beim Überqueren einer vielbefahrenen Kreuzung fest bei der Hand nimmt, umfasste er sie wortlos im Halbdunkel. Bis er seinen Griff lockerte, ohne dass sie ihre Hand aber aus seiner löste. Und nachdem sie lange zur Musik geschwiegen hatten, die ihn überschwemmte und wie eine große, weiche Welle langsam mit sich forttrug, schlief er schließlich ein.
Als er drei Stunden später die Haustür aufschloss, durchzuckte ihn jäh der Impuls, Ben anzurufen! (Aber wieso eigentlich ausgerechnet Ben, dachte Helmut irritiert? Um mich ihm sinnloserweise auszuliefern? Trotzdem griff er zum Hörer und wählte Bens Nummer.)
»Du?«, rief der überrascht, als er die Stimme seines Vaters vernahm.
»Ja, da staunst du, was«, erwiderte Helmut mit einem überlegenen Glucksen in der Stimme.
»Allerdings«, sagte Ben. Ihr letztes Telefonat lag mehr als zwei Monate zurück und war eher unfriedlich zu Ende gegangen. »Ist etwas mit Janek?«
»Mit Janek?«, sagte Helmut irritiert. »Nein, wie kommst du denn darauf?«
»Ach, nur so«, sagte Ben und beließ es dabei.
Jahrelang hatten sie beharrlich aneinander vorbeigeredet, und auch dieses Gespräch, diesen Eindruck hatte Ben spontan, würde daran nichts ändern. Doch dann tat Helmut etwas für ihn vollkommen Überraschendes und sagte: »Wie es aussieht, hat es mich erwischt!« Doch er sagte es heiter und aufgeräumt und ohne jede Schärfe oder Dringlichkeit; es klang vielmehr, als mache er einen seiner üblichen Scherze.
»Was meinst du mit ›erwischt‹? Ich verstehe nicht ganz!«, sagte Ben perplex.
»Ich habe Blut im Urin und morgen Mittag einen Termin bei Dr. Bender! Du bist der Erste, den ich anrufe«, erklärte Helmut und war hörbar angetan von der schlichten Offenheit seiner Sätze. Ja, er hatte kühl und sachlich geklungen, keine Spur von Furcht oder Unsicherheit gezeigt. Beinahe wie immer, wenn sie, was selten genug vorkam, miteinander sprachen und ihre Kräfte maßen.
Ben schwieg, als traue er der Aufrichtigkeit des anderennicht, und dachte in seiner Überraschung: Sicher steckt da eine Finte dahinter. Ein Test? Irgendetwas Perfides! Er will mich abchecken, das ist es!, sagte aber schließlich: »Und was denkst du? Ich meine, wie geht es dir dabei?«
»Wie immer!«, sagte Helmut scheinbar ungerührt. »Die Sache ist garantiert völlig harmlos.« Und dabei dachte er: O ja, ich halte mich glänzend. Er spürte, wie die Kräfte in ihn zurückkehrten. Doch Ben dachte: Du kaltes, gefühlloses Aas.
»Ja, sicher ist es so!«, sagte Ben und lauschte Helmuts plötzlich angestrengt klingenden Atemzügen.
»Ich wollte, dass du das weißt, und halte dich auf dem Laufenden!«, sagte Helmut abschließend.
»Ist gut«, antwortete Ben und dachte: Ja, ja, blabla, sagte aber, als spreche ein anderer aus ihm: »Also höre ich dann von dir?«
»Ja«, sagte Helmut nüchtern und beendete, die Otriven-Flasche im Anschlag, das Gespräch.
Kopfschüttelnd lief Ben zurück in sein Arbeitszimmer und dachte: Vielleicht hätte dies der Moment sein können, in dem sich das Blatt zu seinen Gunsten hätte wenden können? Der Moment, in dem wir uns endlich auf Augenhöhe hätten gegenüberstehen können? Wie zwei erwachsene, gleichberechtigte Menschen.
A n diesem sonnigen Nachmittag Ende März im Jahr der großen Veränderungen gönnte sich das Schicksal nur eine kurze Pause.
Johanna versuchte in der Ankergasse, nachdem sie schlecht gelaunt aus einem viel zu kurzen, unergiebigen Mittagsschlaf erwacht war, sich einzureden, dass sie nicht auf Janek wartete, sondern bestens ohne ihn zurechtkomme und einfach nur sodasitze, wie sie das immer um diese Tageszeit tat, wenn die Kinder des Viertels draußen auf
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