Die Ängstlichen - Roman
der Straße lärmten und Hans Todenhöfer wie gewöhnlich im Treppenhaus schnaufend die Kellertür aufschloss, um die leere Bierflasche, die er in der Hand hielt, gegen eine volle auszutauschen.
Helmut, ihr ältester und plötzlich in eine Art katatonischen Bewegungsdrang verfallener Sohn, war, nachdem er das Telefonat mit seinem Sohn Benjamin beendet und sich im Schlafzimmer hastig in die entsprechende Bekleidung gehüllt hatte – in weiße Fred-Perry-Shorts, ultraleichte Dunlop-Segeltuchtennisschuhe und ein zitronengelbes, mit der in tiefschwarzen Lettern gehaltenen Aufschrift »Gott liebt dich« bedrucktes T-Shirt der Marke Fruit Of The Loom, Größe XL –, hinunter in den Keller gegangen, wo ein nagelneuer Heimtrainer der Marke Kettler, Modell »Racer GT«, stand.
Helmut, der den Heimtrainer für die nicht unerhebliche Summe von 664,05 Euro zuzüglich der Lieferkosten erstanden hatte, erklomm den schwarzglänzenden Ledersattel des eingeschalteten Geräts, postierte seine Füße auf den Tretkurbeln und stieg in der Hoffnung, seinem Unglück auf diese Weise eine Zeitlang zu entkommen, kräftig in die Pedale. Dabei hatte der bereits nach wenigen Minuten mit hochrotem Kopf strampelnde Atheist Sport in geschlossenen Räumen stets verachtet. In dem gelben, schon nach wenigen Minuten an Brust, Schulterblättern und Bauch durchgeschwitzten Shirt sah der unermüdlich strampelnde Helmut, an dessen linkem Ohr der Clip des Pulsmessers wackelte, wie ein verrückt gewordener Postbote aus, der erfolglos eine Botschaft des Herrn zuzustellen versuchte. Ein beflissener Gottesdiener hatte ihm das in Plastikfolie eingeschweißte T-Shirt, zusammen mit einer Einladung der katholischen Gemeinde zu einem Seniorennachmittag mit Kaffee und Kuchen, in Hanaus verregneterFußgängerzone feierlich aufgenötigt. Wie ein klammes Einmannzelt umfloss es nun Helmuts schweißbedeckten, über den Multipositionslenker gebeugten Körper.
Auf den letzten Metern und mit zwischen dem Pulsfrequenzmesser, der Energieverbrauchs- und der Trittfrequenzanzeige hin und her springendem Blick dachte er plötzlich keuchend an den Aufdruck auf seiner Brust. Er dachte: Wieso, um Himmels willen, straft der Kerl mich mit so einer Sache? Dabei hielt er in seiner Strampelbewegung inne, ließ sich erschöpft über den Lenker sinken und spürte, wie sinnlos die ganze Schinderei war. Nein, er war seiner Angst nicht einen einzigen Zentimeter weit entkommen. Stattdessen stand wie auf einer schiefergrünen Schultafel in riesigen, bedrohlich kantigen Lettern das Wort »Tod« vor seinem inneren Auge: Tod, Tod, Tod!
»Oh, mein Gott!«, stöhnte Helmut, riss sich das Shirt vom Leib und schleuderte es auf den Boden. Und während im selben Moment Johanna mit hängendem Kopf hinüber in die Küche schlich und den Knopf des am nördlichen Ende der Arbeitsplatte stehenden Wasserkochers drückte, um sich eine Tasse Maxwell-Nescafé zuzubereiten – bis zu ihrer Rommee-Runde im Café Schien blieben ihr schließlich noch gut siebzig Minuten –, tippte Ben die Durchwahlnummer der sechsunddreißigjährigen Bankangestellten Iris Münch, die eben aus ihrer verspäteten und viel zu kurzen Mittagspause an ihren Platz im rundum verglasten Schalterraum 2 der Dresdner Bank, Hanau, zurückkehrte, in den Hörer seines schnurlosen, anthrazitfarbenen Siemens-Telefons ein, um sich nicht ohne Hintergedanken für den Abend mit ihr zu verabreden.
Seit nicht ganz einem halben Jahr hatte Ben ein Verhältnis mit der unverheirateten Blondine. Manchmal, wenn er mit bis auf die Knie heruntergelassenen Jeans und gespreizten Beinen in seinem abgedunkelten Wohnzimmer vor dem aufgeklapptenLaptop saß, mit dem entblößten erigierten Glied in der Hand auf den Bildschirm starrte und sich an der geladenen Bildergalerie von »Erotik 1« ergötzte, sah er, wenn seine Gedanken von den drallen Tinas und Julias abschweiften, Iris Münch so lange vollkommen nackt und in den entsprechenden Posen vor sich, bis der Samen nach drei, vier heftigen Bewegungen seiner Hand unkontrollierbar aus ihm herausströmte und ein kurzes regenbogenfarbenes Gewitter über die Netzhaut seiner aufgerissenen Augen huschte.
A chtzig Kilometer weiter nördlich braute sich in der von einer flackernden 60-Watt-Birne beleuchteten Waschküche des Hauses Taubitz indes ein weiteres Unwetter zusammen. Mit dem Corpus Delicti in der Hand stand Ulrike wie vom Blitz getroffen vor dem sich auf dem dunklen Steinboden türmenden, bereits leicht
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