Die Ängstlichen - Roman
es von der anderen Seite.
»Absolut«, antwortete Ulrike entschieden und malte sich aus, wie sie Rainer zur Rede stellen und ihm kurz entschlossenden Teppich unter den Füßen wegziehen würde, kalt und ohne die Bereitschaft, ihm seinen Fehltritt zu verzeihen. Und sie würde ihn lange schmoren lassen, o ja, das würde sie!
»Aber so ein Kondom alleine, was besagt das schon?«, gab die andere zu bedenken.
»Ach komm!«, beharrte Ulrike. »Meinst du vielleicht, jemand hat es ihm zugesteckt? Oder es hat sich ohne sein Zutun in seine Tasche verirrt?«
»Nein, natürlich nicht«, gab die Freundin kleinlaut nach. »Und was willst du jetzt machen?«
»Na, was wohl?«, giftete Ulrike und spürte, wie ihre Gesichtshaut zu brennen und zu prickeln begann. »Ihm das Fell über die Ohren ziehen, natürlich! Der soll nur nach Hause kommen!«
Nachdem Ulrike sich Luft gemacht und der anderen (und irgendwie auch sich selbst) ihre Entschlossenheit demonstriert hatte, legte sie auf und lief, mit dem Kondom in der Hand, ins Schlafzimmer im ersten Stock, riss den Kleiderschrank auf und warf sämtliche Kleider, eines nach dem anderen, aufs Bett. Und nachdem sie anschließend auch sämtliche Schuhe aus dem kleinen Schuhschrank gerissen und kreuz und quer über den Raum verteilt hatte, sank sie atemlos aufs Bett, drückte ihr Gesicht in den Kleiderberg und fing an zu weinen. Ihre Wut wandelte sich in eine die Kehle abschnürende Trauer. Hemmungslos schluchzend, presste Ulrike ihr Gesicht in die feuchte Wärme des Stoffbergs. Sie hatte fürs Erste genug von der Welt, wollte nichts mehr sehen. Und so überkam sie eine leichte, aber unwiderstehliche Müdigkeit, und sie schlief, auf dem Bauch liegend und mit dem Kondom in der Hand, ein.
Eigentlich war Ulrike nach oben gelaufen, um das passende Kleid auszuwählen, in welchem sie sich Rainer präsentieren und ihn zur Rede stellen wollte. Doch nun lag sie wie ein voneiner großen Flutwelle an Land gespültes, völlig erschöpftes Etwas reglos da und bot Rainer, der auf seiner erfolglosen Suche nach ihr schließlich im Schlafzimmer gelandet war, einen ebenso verstörenden wie kompromittierenden Anblick.
Zunächst verstand Rainer nicht, sah sich irritiert im Zimmer um und war bereit, das Ganze für einen der sich gelegentlich ereignenden Gefühlsausbrüche seiner Frau zu halten. Doch dann fiel sein Blick auf das verschlossene Kondom, das neben Ulrikes rechter, in den Stoff verkrallten Hand lag, und er begriff, was passiert war.
Mit angehaltenem Atem und darauf bedacht, nicht das leiseste Geräusch zu verursachen, schlich er rückwärts wie ein Taschenkrebs, der, von der Flut überrascht, an Land gespült worden war, aus dem Zimmer, ohne seinen vor Entsetzen starren Blick von seiner wie tot daliegenden Ehefrau zu lösen.
Wenn Ulrike, gestärkt und zweifellos zu allem entschlossen, aus ihrem Schlaf erwachte und mobil gegen ihn machte, musste er möglichst außer Reichweite sein. Und so nahm Rainer, nachdem er unten in der Diele angekommen war, die Autoschlüssel wieder vom Brett, schob die Brieftasche in die Innen- und das Handy in die rechte Außentasche seines Jacketts und langte nach dem Haustürgriff.
Im selben Moment wurden im ersten Stock Geräusche laut. Da schlug er die Tür zu und lief zu seinem in der Auffahrt stehenden Audi A 8, sprang hinein, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Als er sah, dass Ulrike wild gestikulierend in der sperrangelweit geöffneten Haustür stand, senkte er schuldbewusst den Kopf und fuhr mit Vollgas an ihr vorbei.
Natürlich hatte er den Bogen überspannt, auch wenn Ulrike ihm nicht das Geringste anhängen konnte. Was bewies denn so ein Kondom? Noch dazu ein unbenutztes? Nichts. In Rainers Augen gab es nur eine Sünde, die er vor nicht ganzdrei Jahren begangen hatte, eine Sünde, die ihm die Konzernleitung, wenn sie damals dahintergekommen wäre, niemals verziehen hätte: Betrug an denen, die ihn fütterten.
Ulrike hatte damals unverrückbar neben ihm gestanden und war, selbst als es einen Moment lang eng für ihn zu werden schien, nicht eine Sekunde lang von ihm abgerückt. Doch manchmal, wenn sie mit geschlossenen Augen in ihrer mit dem von ihm unterschlagenen Geld finanzierten spanischen Ferienwohnung in Sitges auf dem Balkon saßen, fünfzehnhundert Kilometer von Fulda entfernt, und ihre dick mit Sonnencreme eingeschmierten Gesichter der hoch über dem Mittelmeer stehenden Sonne darboten, hatte Rainer das unbestimmte Gefühl,
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