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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Haut, die ihn einschnürte, und in seinen Schuhen schien zentimeterhoch das Abwasser seines Körpers zu stehen.
    Zögerlich legte er seinen rechten Zeigefinger auf den wie eine Brustwarze obszön hervorstehenden Klingelknopf und starrte hilfesuchend auf den Kinderwagen, der hinter der Scheibe im Hausflur zu erkennen war.
    Helmut atmete durch, drückte zwei Mal kurz und kräftig auf den Knopf, und keine zehn Sekunden später sprang die Glastür mit einem Summen auf.
     
    A uch Johanna hätte in diesen Minuten nur allzu gerne auf den großen runden Knopf einer Zeitmaschine gedrückt, die sie fortbrachte, wegbeamte in eine andere, ihr friedlicher gesinnte Galaxie, in der Wesen wie Janek und ihr Sohn Helmut nicht existierten. An einen Ort, an dem ihr niemand zusetzte.
    Seit ein paar Minuten stand sie vor dem weit geöffneten Küchenfenster und starrte gebannt hinaus in den Garten, als laufe dort draußen ein Programm für Taube und Gehörgeschädigte: Lautlos flog eine Amsel durchs Bild, wenig später schaukelte ein Zitronenfalter vorüber, zuletzt eine dicke pelzige Hummel, die sich in engen Spiralen aus dem Bildausschnitt wand.
    Johanna genoss diesen Zustand, diese Ruhe. Es war, als habe jemand den Lautstärkeregler des Lebens auf null gedreht, denn das, was eben noch bösartig und lärmend erschien, war zu einer grazilen, geschmeidigen Pantomime geworden. Angefangen bei dem Flugzeug, das am oberen Rand lautlos und unwirklich wie eine riesige Stanniolpapieramsel über den wolkenlos blauen Himmel kroch.
    Ähnlich zwei beharrlich nach etwas Essbarem tauchenden Grauenten, von denen bloß noch die himmelwärts gereckten Füße zu sehen waren, schauten die Stulpen von Johannas orangefarbenen Spülhandschuhen, in denen ihre knotigen Hände steckten, aus dem leise knisternden Spüli-Schaumberg heraus. Die Wärme, die sie umschloss, machte sie plötzlich sanft und nachgiebig. Und dabei dachte sie: Die Leute sind so fixiert auf Symbole. Sie hielt ein blinkendes Schnapsglas, das sie eben aus dem Schaum hervorgeholt hatte, prüfend gegen das Licht.
    Am Vortag war sie im Supermarkt auf eine Gruppe grölender Jugendlicher gestoßen, auf deren weißen T-Shirts schwarz leuchtend der deutsche Adler geprangt hatte. Ihre kahl rasierten Schädel hatten obszön gewirkt, dazu die tätowiertenOberarme und diese blitzenden Ringe, die schlackernd an ihren Ohren und Nasenlöchern hingen.
    Manchmal verstand Johanna die Welt nicht mehr. Diese Jugendlichen gaben vor, für ein besseres Deutschland zu sein, und wünschten dafür allen anders Aussehenden die Pest an den Hals. Was ging bloß in den Köpfen dieser jungen Menschen vor? Horden von ihnen trugen satanischen Nippes, Ohrringe und Armreifen aus dunklem Silber oder grauem aufgerautem Stahl oder schwarze schlabbernde T-Shirts mit Totenköpfen und Kruzifixen darauf. Sie schminkten sich die Gesichter kalkweiß oder pechschwarz und spukten mit ihren schweren, verräterisch rasselnden Halsketten wie lebende Toten durch die Supermärkte und Fußgängerzonen. (Die moderne Welt kopierte, zitierte und parodierte alles so lange beharrlich, bis es seinen ursprünglichen Sinn verlor.)
    Gottlob, dachte Johanna, hatte Ben sich nie in derlei Richtungen verirrt. Ben war sicher vieles: ein zielloser Träumer, weltfremd, in höchstem Maße unzuverlässig und, was praktische Dinge anging, eine Niete (was Janek mehr als einmal zur Weißglut getrieben hatte). Doch etwas in ihm war stets immun gegen solche Spinnereien geblieben.
    Inzwischen gab es ja sogar Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, von den Abfällen anderer zu leben, angeblich, um damit Einspruch gegen den Konsumterror zu erheben, unter dem sie litten. Sie hingegen spürte nichts von diesem Terror, sondern akzeptierte das Diktat der Werbung, das sie jeden Abend per Knopfdruck in ihre vier Wände holte, mit einer in entspanntem Desinteresse wurzelnden Altersmilde. Außerdem hatte sie fürwahr mit anderen Dingen zu kämpfen als mit ungefragt in ihr Bewusstsein vordringenden Werbebotschaften, die sie doch ohne weiteres abschalten konnte.
    Sie hatte vor allem mit Janek zu kämpfen (oder besser: mitdessen Abwesenheit und seinem fortgesetzten Schweigen), der mit seinem Fernbleiben im Begriff war, ihren Geduldsfaden ein für alle Mal zu überspannen. Und dann natürlich mit der Flut der verschiedenfarbigen Pillen, die sie jeden Morgen einzunehmen hatte und die ihre ganze Konzentration erforderten. Falscheinnahme des einen oder anderen Präparats

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