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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Helmut und Konrad Jansen manchmal durchaus etwas Tom-Sawyer-Haftes gehabt: Dann wurde der Main zum Mississippi und die gewöhnlichen Frachter zu Schaufelraddampfern, die fernen, verheißungsvollen Zielen entgegenfuhren. Hanau war plötzlich der Mittelpunkt der Welt, und selbst eine Zukunft wurde dort mit einem Mal vorstellbar.
    Und sogar Ulrike Jansen hatte sich ein geglücktes Leben in Hanau vorstellen können, wenn sie an sonnigen Junitagen mit ihren Freundinnen beschwingt singend durch die lichten Buchenwälder Wilhelmsbads radelte, der Fahrtwind in ihren weizenblonden Locken spielte und die Pferdenärrin sich fühlte, als galoppiere sie auf einem Schimmel geradewegs ins Glück. Doch bereits der kurze Blick in die oft betrübten Gesichter der Eltern, die in Hanau nicht glücklich geworden waren, hatte jedes Mal genügt, um ihr und ihren Brüdern das ernüchternde Gefühl zurückzugeben, im Herzen einer unentrinnbaren Gewöhnlichkeit zu leben.
    Auch in Helmuts Augen war Hanau von jeher die Unstadt schlechthin, und kein Stadtteil war so tot, so ausdruckslos und so nichtssagend wie die gerontokratische Weststadt, in der er selbst vor mehr als zwanzig Jahren gestrandet war. Eine Ansammlung klotziger, von einer Horde zugezogener Analphabeten bevölkerter Betongefängnisse, in denen die reineSprachlosigkeit herrschte, das Schweigen austherapierter Sterbepatienten. Und was den auf Karnevalsveranstaltungen und im Kaninchenzüchterverein viel beschworenen Hanauer Ortsgeist betraf: der hatte, daran hegte Helmut keinen Zweifel mehr, längst das Gesicht eines bartschattigen, schwarzhaarigen Mannes aus Antalya, der gemeinsam mit seinen Glaubensbrüdern aus Izmir, Istanbul und Bogazkent daran arbeitete, die Stadt unter seine Kontrolle zu bringen.
    Ja, immer häufiger ballte Helmut die Faust in der Tasche, wenn er durch Hanaus Innenstadt lief und vor den zahllosen »Call-Centers« und grell illuminierten Geschäften mit Namen wie »Goldlädchen« und »Südfrüchteparadies« die bärtigen Männer in ihren sackleinenen Djellabas in der Sonne sitzen sah, Wasserpfeife rauchend.
    Hanau war, dessen war er sich sicher, fest in der Hand international tätiger Geldwäscherbanden und längst ein Außenposten des Orients. Die Verwandlung der Stadt seiner Kindheit und Jugend in anatolische Steppe schritt seiner Meinung nach unaufhaltsam voran. Der Europagedanke war ein einziges, unverzeihliches Missverständnis, das irgendwelche in der nationalen Tagespolitik gescheiterten Europa-Parlamentarier, die mafiöse Beziehungen nach Ankara und Nikosia unterhielten, verbrochen hatten. Wenn es nach ihm ginge, konnten all die Herbeigelaufenen mit ihren Kamelen und Zucchini bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Nein, Helmut machte schon lange keinen Hehl mehr aus seiner Angst vor Überfremdung und führte Worte wie »Zustrombegrenzung« und »Abschiebung« inzwischen selbst in der Öffentlichkeit so ungeniert im Mund, dass man ihn, allen voran Ben, für einen ausgemachten Rassisten und gefährlichen Nationalisten hielt und jedes Gespräch mit ihm über Politik und Ausländerfragen floh wie einen Hepatitis-A-Virus.
    Ja, vielleicht bin ich ja sogar ein Nationalist, na und, dachteHelmut trotzig, besser als ein Heimatverräter. Sollte er etwa tatenlos zusehen, wie Hanau in die Hände von Kameltreibern und Arabern fiel, die ihn eines Tages dazu zwingen würden, Türkisch und, schlimmer noch, den Koran auswendig zu lernen? Nein! Noch loderte der Geist des Widerstands in ihm, und noch war er nicht bereit, die Stadt, die ihm einen gewissen Wohlstand und Ansehen beschert hatte, kampflos aufzugeben.
    Der Himmel, an dem Krähen aufstiegen und niederflogen wie eine Handvoll in die Luft geworfene Steine, leuchtete im Osten so blau und verlogen wie ein riesiges Werbeplakat, das für einen Traumurlaub an Spaniens Küste warb (an dessen Stränden man allerdings in mehreren Metern Tiefe Fässer mit hochgiftigem Ethylendichlorid vergraben hatte), und Helmut umklammerte das Steuerrad mit beiden Händen wie einen Rettungsring.
    Er setzte den Blinker und bog in die Nussallee ein, die direkt auf die Hohe Tanne zuführte. Die Luft, die mild und würzig zum halb geöffneten Fenster hereinwirbelte, strich über sein Gesicht und trocknete seinen Schweiß.
    Als er die Rosenau erreicht hatte und er den Wagen auf den Praxisparkplatz manövrierte, hatte er das Gefühl, einmal der Länge nach durchs Wasser gezogen worden zu sein. Das Hemd klebte am Körper wie eine zweite, blau geblümte

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