Die Ängstlichen - Roman
verlogen.) »Na, komm schon! Was ist?«
Rita senkte unwillig den Blick, antwortete aber schließlich nach einer für Rainers Empfinden verräterisch langen Bedenkzeit: »Ja, richtig gut warst du, einfach toll! Ganz ehrlich.«
Als er eine halbe Stunde später sein Sony-Ericsson-Handy einschaltete, waren neun neue Nachrichten in seiner Mailbox gespeichert, allein sechs stammten von Ulrike.
A MERIKA. Als Konrad ganz früh am Morgen erwacht war, hatte er dieses magische Wort noch immer im Ohr: A-me-ri-ka.
Kurz nach sieben war er aufgestanden und in das Raucherzimmergegangen, froh, der Nacht entkommen zu sein, aber auch enttäuscht, dass die Traumbilder verschwunden waren. »Amerika«, hatte er sehnsuchtsvoll gemurmelt, als er die Augen aufschlug, »Amerika.«
Im Traum hatte er neben Ben (der ihm so oft versprochen hatte, einmal gemeinsam mit ihm nach Amerika zu fahren) im Flugzeug gesessen, hoch in den Wolken, abwechselnd eingehüllt von leuchtend hellen, unwirklich weißen Schwaden, die hinter den ovalen Fenstern schimmerten wie Zuckerwatte, und eintönigem Blau. Sie waren über silberfarben, grünbraun oder granitgrau zurückbleibende Ebenen hinweggeflogen, aus denen alles Städtische wie eine Ballung loser, karamellisierter Zuckerstreusel auf der Oberfläche eines Sandkuchens heraufleuchtete. Sie wurden getragen von der Gleichförmigkeit ihrer Vorwärtsbewegung und dem mal mehr, mal weniger deutlich spürbaren Vibrieren der Turbinen.
Ben, der im Traum ein Whiskyglas in der Hand gehalten und einen Cowboyhut getragen hatte, hatte gelacht und einen Eiswürfel zerbissen, während ihre Maschine sich langsam über den Atlantischen Ozean schob und auf die Küste Nordamerikas zubewegte.
Das Laken hatte sich klamm angefühlt, stank und war verklebt, und Konrad war immerzu unruhig dicht unter der Oberfläche des Traums dahingetaucht.
Die Eindrücke aus dem Flugzeug aber waren nach dem Erwachen noch ganz frisch, und sekundenlang glaubte er, das Schaukeln des Rumpfs der Maschine, gegen den die mächtigen Luftströme anprallten und brausend darunter hinwegzogen, im ganzen Körper zu spüren.
Jahrelang hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, aus dem Bordfenster eines Flugzeugs die einhundertzwei Meter und zweiundzwanzig Stockwerke hohe Freiheitsstatue vor den TorenNew Yorks an der Südspitze Manhattans sehen zu können, die ihm zur Begrüßung ihre mächtige Fackel entgegenstreckte. Doch der Traum, der jäh und enttäuschend kurz davor abgerissen war, hatte ihm diesen Anblick einmal mehr verwehrt. (Wie es aussah, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich allein in ein Flugzeug zu setzen, um sich endlich auf eigene Faust seinen Traum zu erfüllen.)
Konrad stand jetzt am geöffneten Fenster des Turmzimmers und ließ seinen Blick über die rotbraunen, im Dunst changierenden Dächer und Giebel Heppenheims schweifen. Im Westen war Frankfurt, im Norden und Osten die Berge und im Süden, irgendwo ganz hinten, das Meer.
Trotz des Verbotsschildes, das an der Tür angebracht war, war er in einem unbeobachteten Moment keuchend die stark baufällige Holztreppe hinaufgestiegen und hatte den schwergängigen Schlag des einst als Dachboden genutzten Raums aufgestoßen. In der hinteren linken Ecke stand ein verwittertes altes, mit Spinnweben überzogenes Metallbettgestell ohne Matratze. Der rostige Sprungrahmen lehnte hochkant an der Wand, daneben standen braune staubige Kartons mit dem Aufdruck »Pflegepersonal«. Die stumpfen kastanienbraunen Dielen waren mit riesigen Staubmäusen und Nägeln und Schrauben übersät. Auch dort überall Spinnweben. In der gesprungenen, größtenteils blinden Glasscheibe konnte er unscharf sein Profil erkennen.
Von unten drang das Lärmen der Patienten aus dem Hof zu ihm herauf. Konrad reckte den Hals, um noch weiter sehen zu können, und auf einmal war ihm, als befördere ihn eine ausfahrbare Leiter, wie sie Feuerwehrfahrzeuge besaßen, um die Männer auf Hausdächer zu manövrieren, himmelwärts nach oben, immer höher, immer weiter hinauf. Er konnte Port Vell, den bunten Jachthafen von Barcelona, sehen, die steinigen Uferdes Lago Maggiore und die hitzeflirrenden südholländischen Ebenen Zeelands, durch die er als Sechzehnjähriger gefahren war. Weiter nördlich sah er die rauchenden Fabrikschlote Manchesters zwischen Oldham Road und Redhill Street, die an aufgeplatzte Kissen erinnernde graue Gebilde in die Luft bliesen, dahinter das schottische Hochmoor, Inverness und Loch Ness. Und dabei
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