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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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bewundert, wie selbstverständlich sie ihren Mut, ihre Lebenszugewandtheit und ihre Entschlossenheit aus irgendwelchen Psycho-Ratgebern mit Titeln wie »Der Weg zu mir«, »Das Ego-Prinzip« oder »Sag ja zum Leben« bezog und es zudem unaufdringlich verstand, andere mit ihren gewonnenen Überzeugungen zu infizieren. Wie sonst war es ihr gelungen, den drei Geschöpfen, die sie zur Welt gebracht hatte, zu vermitteln, etwas Besonderes zu sein, obgleich sie sich, genau betrachtet, als schwankende Einzelgänger erwiesen, die sich in endlosen Ausbildungen und durchsichtigen Selbstverwirklichungsabsichten verloren, um nicht hinaus ins wahre Leben zu müssen. Umso erschreckender, wie labil, streitsüchtig und angreifbar Ulrike im Moment war.
    Johanna zog ein zerdrücktes cremefarbenes Papiertaschentuch aus ihrer grau-blau karierten Schürze und tupfte sich flüchtig die Wangen ab. Wenn sie durch schwaches Luftausstoßen die faltig gewordenen, leicht hängenden geröteten Wangen blähte, konnte man erahnen, welch schöne Frau sie einmal gewesen war. Die Jahrzehnte hatten ihren Mund schief gezogen und winzige graue Haare auf ihrer Oberlippe sprießen lassen. Die einst volle Unterlippe hatte sich zu einem dünnen Strich verschmälert. Doch obwohl der graue Star ihren Linsen heftig zusetzte und alles, was in ihr Blickfeld geriet, mit einem feinen milchigen Schleier umgab, der das zweifelsfreie Erkennen von Menschen und Gegenständen zunehmend zu einem Glücksspiel machte, leuchtete das Weiß ihrer listigen Augen wie das einer Siebzehnjährigen. Genau betrachtet hatte die Natur ihr gegenüber Nachsichtgeübt. Trotzdem haderte Johanna mit ihrem Schicksal, fühlte sich inzwischen notorisch benachteiligt und von ihrer Umwelt schlecht und ungerecht behandelt. Zugleich aber verstand sie es noch immer meisterhaft, aus der Schwäche anderer Kraft und Entschlossenheit zu ziehen. Kaum etwas mobilisierte sie stärker, als zu beobachten, wie andere strauchelten und sich abrackerten. Und weil dem so war, schob sie das kleine Scharmützel mit Ulrike in eine hintere Ecke ihres Bewusstseins, erhob sich vom Tisch und beschloss, ihre wiederentfachte Lebenslust mit einem kühlen Gläschen Bier zu begießen.
     
    R ainer schlug die Augen auf und blinzelte in den von seidigem Zwielicht erfüllten Raum. Seine Blase war gefüllt und drückte ihren giftigen Inhalt mit schmerzhafter Intensität in seine Leisten. Wohin sein trüber, an die Zimmerdecke gehefteter Blick auch fiel, erfasste er eintöniges, taubenschissfarbenes Raufasergrau.
    Er neigte den Kopf leicht zur Seite und spürte dabei den süßlich-faden Geschmack von Lippenstift im Mund. Dieser Geschmack, den er Stunden zuvor gierig in sich aufgenommen hatte, konnte allerdings nur noch schwach die Erinnerung daran überdecken, wie er tags zuvor von zu Hause weggefahren war. (Weggefahren? Er war geflohen wie ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte.)
    Rainer bewegte seine Hände, zog die Beine an, drückte den Rücken durch. Er versuchte an Ulrike zu denken, wie man an ein schönes Erlebnis dachte, stellte aber sogleich fest, dass er das nicht konnte.
    Nach und nach dämmerte ihm, was in der Nacht zuvor geschehen war: Er lag in einem fremden Bett in einer fremdenWohnung und sah, dass er zwar sein Hemd, seinen Kaschmirpullover und auch seine Socken noch anhatte, unterhalb des Bauchnabels aber nackt war.
    Unsicher tauchte er mit der Hand unter der Decke nach seinem Glied und erspürte das an der Haut festgetrocknete, schuppige Sperma; kleine, farblose Plättchen, die einmal die Möglichkeit neuen, unbekannten Lebens in sich getragen hatten, verschossen wie Platzpatronen.
    Denn seit seiner gut dreiundzwanzig Jahre zurückliegenden Vasektomie, um die Ulrike ihn damals gebeten hatte (Ulrike hatte Kondome immer gehasst, die Pille irgendwann abgesetzt, doch ein vierter, unerwünschter Nachzügler sollte unter allen Umständen verhindert werden), kam Rainer sich noch manchmal wie ein Mercedes vor, bei dem jemand kurzerhand gewaltsam den Stern von der Kühlerhaube entfernt hatte: verschandelt und entweiht. Seine Erektionsfähigkeit hatte durch den Eingriff keinen Schaden genommen, doch seither setzte er alles daran, sich seine Männlichkeit in immer neuen Affären zu beweisen, und stieg so ziemlich mit jeder ins Bett, die bereit dazu war. (Natürlich war Rainer nicht lebensmüde und machte es nie ohne. Doch ausgerechnet sein Pflichtbewusstsein, so hatte es jetzt den Anschein, war im Begriff, in

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