Die Ängstlichen - Roman
kollidiert, so dass der Verkehr sowohl stadtein- als auch stadtauswärts, zusätzlich behindert durch Schaulustige, zum Erliegen gekommen war. Nichts ging mehr in der ohnehin arg gebeutelten Brüder-Grimm-Stadt, in der Napoleon 1813 in der Schlacht bei Hanau gegen die bayerisch-österreichischen Truppen unter General Wrede seinen letzten Sieg auf deutschem Boden errungen hatte.
Hanau wirkte angeschlagen und so kopflos wie die beiden herbeigerufenen Verkehrspolizisten Abmaier und Brenner, die zwar wort- und gestenreich agierten, unterm Strich aber wenig erfolgreich darum bemüht waren, zwischen den einander inzwischen heftig attackierenden Unfallparteien zu vermitteln.
Noch immer erinnerten gerissene Stromkabel, umgestürzte Bäume, demolierte Autos und mit Regenwasser vollgelaufene Keller an das, was sich unter gewaltigem Tiefdruckeinfluss Tage zuvor zwischen Kesselstadt, dem Lamboyviertel und dem Hauptbahnhof wie den Ausläufern Großauheim und Steinheim zugetragen hatte. Doch Hanaus Bürger, zähe, von einem latenten Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem ungleich urbaneren Frankfurt umgetriebene Lokalpatrioten, spuckten, ähnlich wie schon in den ersten Nachkriegstagen, in die Hände, um trotzig und mit vereinten Kräften auszubügeln, was die Naturgewalten ihrer Stadt angetan hatten.
Die älteste, 1581 in Frankfurt erschienene Stadtansicht Hanaus, ein handkolorierter Holzschnitt aus Abraham Sauers Sammelwerk »Parvum Theatrum Urbium«, zeigt die Stadt als ruhigen,von der großen, weltumspannenden Geschichte mal mehr, mal weniger tangierten Marktflecken, über dessen friedlich aufragenden Dächern und Giebeln ein tiefer Himmel hängt. Den Bildvordergrund zieren weitläufige Felder, und die im Hintergrund thronende Stadt strahlt kraft ihrer aufragenden Zwiebeltürme eine bukolische Orientalistik aus. Und genau genommen hatte sich dieser Eindruck bis in die Gegenwart gehalten: Durch Hanaus enge Gassen zog buntes, morgenländisch anmutendes Fußvolk. In der Zentrale der Macht, dem Bürgermeisteramt am Marktplatz, drehte ein kalifenähnlicher Herrscher an den Rädern lokaler Macht, und dort, wo einst unter Federführung eines Mannes namens Matthias Daßbach 1867 die Gründung des Allgemeinen Arbeitervereins über die Bühne gegangen war (eine Vorform der späteren deutschen Sozialdemokratischen Partei) und die »Dunlop Pneumatic and Tyre Co. GmbH« 1893 ihre Produktion von Fahrradreifen aufgenommen hatte, herrschte blindes kreisstädtisches Chaos. Trupps geschäftiger und sternförmig ausschwärmender Stadtdiener huschten mit vertraulichen Dokumenten unter den Armen über die Flure der Gemeindeanstalten. Der Telefonverkehr zwischen dem Ordnungsamt und dem Bürgermeisteramt verlief hektisch und auf vollen Touren, und alles, was in den städtischen Dienststellen verfügbar war, arbeitete unter Hochdruck an der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und der kosmetischen Korrektur des arg in Mitleidenschaft gezogenen Stadtbildes. Kurz: Die Lage war prekär. Denn galt es eben noch, alle städtischen Kräfte zu bündeln, um die Vorbereitung der anstehenden Feiern »700 Jahre Altstadt Hanau« und »400 Jahre Judenstädtigkeit« erfolgreich voranzutreiben, so hatte die Abwicklung und Beseitigung der Folgeschäden des Unwetters diese Anstrengungen zeitweise zum völligen Erliegen gebracht. Ganz zu schweigen von der Eröffnung des »Congress Parks«und sogenannten CPH, das Hanaus Bedeutung als international ausgerichtete kultur- und konferenzfreudige freie Kreisstadt mehren und dort neuen Glanz verstrahlen sollte, wo einst die altehrwürdige Stadthalle – ein klotziger, zugiger und zuletzt ausschließlich von Tierzuchtvereinen und zweitklassigen Tourneetheatern frequentierter Quadratbau – gestanden hatte, in dem zweimal wöchentlich Abonnementbesitzer vorgerückten Alters ihren vormitternächtlichen Kurzschlaf abhielten.
Hanaus Räderwerk war in diesen Minuten merklich ins Stocken geraten: Der in der Fahrstraße entstandene Stau löste sich noch immer nicht auf (die Schaulustigen hatten das ihre dazu getan), im städtischen Schlosspark, im Schatten des einstigen Mädchenlyzeums, setzte sich der deutsch-türkische Junkie Methin K. soeben den goldenen Schuss. Und in den schäumend grünen Mainauen, unterhalb der Aussichtsterrasse des Schlosses Philippsruhe in Kesselstadt, war der bettelnde Witwer Franz Benedikt neben seinem Hund, einem sehnigen Foxterrierrüden namens Othello, von einer tödlichen Herzattacke
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