Die Ängstlichen - Roman
Form eines Kondoms sein Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Von seiner Angst vor Aids ganz zu schweigen.) In der ersten Zeit nach der gerade mal eine halbe Stunde dauernden Operation hatte er sich minderwertig gefühlt, weniger mannhaft, nicht mehr als vollwertiger Mensch. Und im Zuge der quälenden Nachuntersuchungen (noch mehrere Monate nach dem Eingriff hatte man befruchtungsfähige Spermien in seiner Samenflüssigkeit nachgewiesen) hatte er vor allem Ulrike dafür gehasst, dass er ihrem Wunsch nachgekommen war und seine Samenleiter hatte durchtrennen lassen.
Beim Sex mit ihr (und all den Lisas, Claudias und Patricias)war er sich anfangs wie ein Einbeiniger beim Hürdenlauf vorgekommen und hatte oft keine besondere Figur gemacht, weil er einfach nicht aufhören konnte, seine Entscheidung zu bedauern. Mehr als einmal hatte er gedacht: Ich Idiot! Wieso habe ich das bloß gemacht? Denn was, wenn Ulrike stirbt oder ich eine andere treffe, mit der ich noch einmal ein Kind haben möchte? (Was natürlich Unsinn war! Rainer bedauerte jeden seiner Geschlechtsgenossen inzwischen aufrichtig, den er frühmorgens, wenn er zur Arbeit fuhr, einen Buggy durch Fuldas neblige Straßen schieben sah. Und noch einmal seine kostbare Nachtruhe durch ein krähendes Bündel bedroht zu sehen war ihm unvorstellbar.) Doch mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, nicht mehr zeugungsfähig zu sein, und seine Freude an gezielten außerehelichen Eskapaden wiederentdeckt. Außerdem wusste niemand außer Ulrike von seiner Entmannung. Überfielen ihn dennoch Zweifel an seiner Vollwertigkeit als Mann, so rieb und quälte er seinen schlappen Kameraden frühmorgens unter der Dusche (der erste Höhepunkt des Tages sozusagen), um zu sehen, ob sein Samen noch wie früher mit der gleichen Wucht aus ihm herausströmte.
Dann war eine Phase gekommen, in der er seinen Samen regelrecht verachtete und die weiße, milchig trübe Flüssigkeit verschoss wie ein Jäger seine kostbare Munition, der statt auf Füchse wahllos in die Baumkronen ballerte. Doch inzwischen hatte er andere Sorgen als seine Zeugungsfähigkeit.
Rainer fühlte sich zerschlagen, der Kopf tat ihm weh, und das, was im Augenblick mit seinem Leben geschah, war nicht mehr als gewöhnliche Pechsträhne abzutun, wie sie in jedermanns Leben vorkam. Was er erlebte, war eine ausgewachsene Krise.
Begonnen hatte alles in der Kantine, in der Vorwoche, mit einem ebenso peinlichen wie unnötigen Vorfall. Rainer hattean der Kasse gestanden und war bei dem Versuch, seine Mitarbeiter-Chipkarte aus der Innentasche seines Sakkos herauszufischen, in der Rückwärtsbewegung mit dem rechten Ellbogen gegen das Tablett des hinter ihm stehenden Kollegen gestoßen. Wie eine Handvoll umfallende Dominosteine hatte sich seine kleine, im Grunde nichtssagende Unachtsamkeit in eine mittlere Katastrophe fortgesetzt: Dem Hintermann waren, ebenso wie dessen Nebenmann, die Teller vom Tablett gerutscht und krachend zu Boden gefallen. Und nachdem die unselige Kettenreaktion endlich gestoppt war, lagen im Umkreis von gut zwei Metern zahllose öltriefende Salatblätter, dicke schmierige Klumpen blutroter Sauce Bolognaise sowie ein riesiger Berg Spaghetti auf dem Fußboden. Ein ekelerregendes, süßsauer riechendes Durcheinander, das seine aktuelle innere Verfassung treffend wiedergab.
Zwar hatte Rainer sich auf der Stelle wort- und gestenreich entschuldigt und sich spontan bereiterklärt, den entstandenen Sachschaden und die zu erwartenden Reinigungskosten der verschmutzten Kleidung der betroffenen Mitarbeiter zu begleichen (er hatte den beiden Kollegen zähneknirschend seine Karte in die Hand gedrückt), doch noch Stunden später hatte Rainer, vor dem Computer sitzend, die entgeisterten, vorwurfsvollen Blicke der Umherstehenden brennend auf sich gespürt.
Einen Tag danach hatte er bei dem Versuch, den Wagen rückwärts aus der Garage zu manövrieren, Timm, den achtjährigen Sohn seines Nachbarn, der offenbar achtlos vom Grundstück lief, übersehen und mit dem rechten hinteren Kotflügel gestreift. Glücklicherweise war der Zwischenfall mit Tränen und leichten Schürfwunden glimpflich abgegangen. Doch den Rest des Tages hatte Rainer neben sich gestanden: Ständig schweiften seine Gedanken ab, und immerzu sah er weitere kurz und lähmend durch sein Bewusstsein huschende Katastrophenszenarien.Sämtliche Versuche, sich trotzdem zu konzentrieren, schlugen fehl. Als ihm zudem kurz darauf wichtige Unterlagen, die er übers
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