Die Ängstlichen - Roman
AMERIKA.
N achdem er ein paarmal telefoniert hatte und sein Plan Gestalt anzunehmen begann, sah Janek aus dem Fenster hinunter auf die Krämerstraße und beobachtete die Passanten.
Die Wassermassen hatten sich unterdessen wie ein in sein unterirdisches Reich zurückgedrängtes Rattenvolk weitgehend in die Kanäle verzogen und die Straßen wieder freigegeben.
Wenig später lag er auf dem Bett, hielt die Pistole in der Hand und stellte sich amüsiert Johannas erstauntes, vom Ausdruck tiefen Unglaubens gezeichnetes Gesicht genau in jenem Moment vor, da sie die Nachricht seines Todes erreichte.Dazu ihren Blick, in dem sich zunächst Trauer und Entsetzen mischten, um schließlich Wut und Enttäuschung Platz zu machen. Denn Johanna, das wusste Janek, war weitaus leidenschaftlicher, als sie alle Welt beharrlich glauben machte.
»Du bist so erschreckend kaltherzig«, hatte Johanna kurz vor seinem Verschwinden zu ihm gesagt. »Trotz all deiner Nettigkeiten, zu denen du imstande bist, bist du ein kalter Fisch!«
Immer wieder war ihm dieser Vorwurf früher oder später (wenn auch zumeist anders formuliert) begegnet, wenn er sich auf eine Frau einließ. Und es waren einige, bei denen das mehr oder weniger der Fall gewesen war. Beim ersten Mal hatte er sich gekränkt zurückgezogen. Inzwischen aber war ihm das egal. Es mochte stimmen oder nicht. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, sich dafür zu interessieren, was andere von ihm dachten oder über ihn sagten.
»Du lässt mich nie an deinen Gedanken und Gefühlen teilhaben!« Noch so ein Satz, der sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog.
Mag sein, dass ich kalt bin und ein Einzelgänger, dachte Janek, und wenn schon. Er musste an Ben denken, versuchte sich seine helle, leicht brüchige Stimme zu vergegenwärtigen und fragte sich, wie er die Nachricht seines Todes aufnehmen würde (in solchen Dingen hatte Ben ein feines Gespür und war nicht leicht zu täuschen).
Janek erhob sich, steckte sich eine Zigarette an und trat wieder ans Fenster. Die Pistole legte er vor sich auf das Fensterbrett.
Während er einen kräftigen Zug nahm und den Rauch in den Wind blies, der ihn in winzigen Spiralen davonwirbelte und zerstob, schaute er interessiert zu dem gegenüberliegenden Wohnhaus. Denn trotz der recht großen Entfernung hatte dort etwas seine Aufmerksamkeit erregt: Zwischen dunklenVorhängen konnte er in einem schwach erleuchteten Zimmer ein nacktes Paar erkennen, einen Mann und eine Frau. Beide waren alt. Einander zugewandt, sahen sie sich an, während der Mann der Frau mit der Hand zärtlich über den Kopf strich.
Lässig schnippte Janek den glimmenden Zigarettenstummel hinunter auf die Straße, griff nach der Pistole und wandte sich ab. Er lief zum Bett, streckte sich der Länge nach darauf aus und schloss die Augen, die Waffe neben sich. Trotzdem sah er das Paar weiter vor sich, eine sich immer neu wiederholende Pantomime vollführend, in der die Kraft von etwas Ursprünglichem aufblitzte. Als er versuchte, es genauer zu benennen, löste es sich auf.
»Hallo, hallo«, drang es vom Gang zu ihm herein, dann war es still. Er riss die Augen auf. Hatten sie ihn also aufgespürt in seinem Versteck?
Niemand antwortete. Stattdessen war ein leises Klopfen zu hören, als hätte die Stille eine Stimme.
Er hielt den Atem an. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, fünfzehn. Nichts geschah. Bis er glaubte, draußen jemanden ausatmen zu hören. Kurz darauf eine Art Ächzen, gefolgt von weiteren Klopfgeräuschen und einem Flüstern.
Er richtete sich langsam wieder auf, streifte lautlos die offenen Schuhe ab, legte sie vorsichtig aufs Bett und lief auf Zehenspitzen mit vorgehaltener Waffe zur Tür.
Auf einmal hatte er das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen, und er hätte sich beinahe umgedreht, um zu sehen, was er zurücklassen musste, wenn es ihn kopfüber hinabzog. Doch dann ertönte ein heiseres Lachen hinter der Tür, laut und durchdringend, als lache ihn jemand aus. Er hörte, wie dieser Jemand sich schnell entfernte und das Hallen seiner Schritte sich in der gewundenen Tiefe des Treppenhauses verlor.
H anaus Innenstadt erinnerte in diesen Stunden an das kürzlich verstopfte Abflussrohr in Helmuts Gästetoilette. In der Fahrstraße, dem von Boutiquen, einem Bio-Laden und Imbissbuden wie »Bei Merten« oder »Burger Paradies« gesäumten kurzen Verbindungsstück zwischen Markt- und Freiheitsplatz, war ein Linienbus mit einem ortsunkundigen Falschfahrer
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