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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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dachte er abfällig: Was habe ich zu schaffen mit dem Gelärm und Geschrei all dieser Idioten da unten?
    Seit zwei Tagen hatte er seine Tabletten (trizyklische Neuroleptika) nicht mehr eingenommen (statt sie zu schlucken, hatte er sie so lange unter der Zunge behalten, bis die diensthabende Schwester den Raum verlassen hatte, und sie anschließend in der Toilette hinuntergespült) und registrierte hellwach jede einzelne Veränderung, die in seinem Körper vor sich ging (chemisch errichtete Phenothiazin-Blockaden in seinem Gehirn wurden aufgehoben, atomisiert und mit jedem neuen Urinfluss Stück für Stück ausgeschwemmt). Sein Blick wurde schärfer, seine Bewegungen geschmeidiger (aber auch fahriger) und seine Wut und Entschlossenheit größer. Die jahrzehntelange Einnahme blockierend wirkender Präparate (Butyrophenone wie Haloperidol oder Benperidol) hatte einen trägen, apathisch wirkenden Menschen aus ihm gemacht, und Konrad spürte, wie neues – oder sollte er sagen: altes Leben in ihn einzuströmen begann wie Wasser in den lange Zeit toten Seitenarm eines Flusses. Die Bleiweste, die ansonsten alle Tage schwer und lähmend seinen massiv verfetteten, zweiundneunzig Kilogramm schweren Körper umschlossen hatte, begann sich zu lösen, und er konnte nur noch an eines denken: an seine Flucht, angefangen bei dem keineswegs ungefährlichen Sprung aus dem engen Toilettenfenster hinunter in den Abgrund eines mehr als drei Meter tiefer gelegenen Wiesenstücks, das von dichten Weißdornbüschen überwuchert war.
    Das zweieinhalb Zentimeter dicke Messinggitter vor dem Fenster hatte er bereits mit Hilfe eines Fuchsschwanzes, den er im Werkraum in einem unbeobachteten Moment an sich genommen und unter seinem Arbeitskittel verschwinden lassen hatte, in mehreren Anläufen an den entscheidenden Stellen angesägt, so dass es sich problemlos entfernen ließ. Und vor einem Sprung, mochte er auch noch so gefährlich sein, hatte er keine Angst. Jede einzelne Bewegung sah er immer wieder vor seinem geistigen Auge ablaufen: das sich Abstoßen von dem winzigen Backsteinvorsprung unterhalb des Fensters, den gerade mal ein paar Sekunden dauernden Sturz in die lichtlose Tiefe. Und vor allem: seine Landung im Gebüsch (er setzte auf dessen bremsende Wirkung und wusste, dass er unter keinen Umständen mit gestreckten Beinen aufkommen durfte).
    Anfangs hatte Konrad mit der Idee gespielt, sich mit Hilfe aneinandergeknoteter und am Abflussrohr der Kloschüssel befestigter Betttücher abzuseilen. Doch die Vorstellung, sein eigenes Körpergewicht womöglich minutenlang halten und stützen zu müssen, um sich Stück für Stück an der Außenwand hinunterzulassen, schreckte ihn ab. Er schloss das Fenster, drehte sich um und stieg schwankend die bei jedem Schritt spürbar unter seinem Gewicht erzitternde, leicht schwankende Treppe hinunter, ohne dass ihn jemand bemerkte.
    Aus dem um diese Uhrzeit spärlich gefüllten Speisesaal im Erdgeschoss (die große Saaluhr zeigte achtzehn Minuten nach elf), vor dessen Fenstern zum Schutz vor der Sonne die Markisen heruntergelassen worden waren (so dass ein rotweiß gefiltertes Licht im Raum herrschte, das die zu vier langen Reihen angeordneten Holztische honigfarben erstrahlen ließ), drangen die üblichen Schmatz- und Gröllaute der Patienten, unterlegt vom schrillen ungebremsten Kratzen und Schaben von Gabeln und Messern auf stumpfem Porzellan, zu ihm herüber.
    Kurz darauf nahm er selbst ein Tablett in die Hand, stellte eine Schale Suppe (pürierte Blumenkohlsuppe), einen Teller Kartoffelpuffer (an dessen Rand ein sämiger Klecks Apfelbrei grünbraun klebte) sowie zwei Portionen Schokoladenpudding (beide mit einer gelblichen Schlagsahnerosette verziert) darauf, griff sich Besteck aus dem Kasten und lief damit an den rechten äußeren Rand des Saals, wo er in einer der acht Stuhlreihen Platz nahm.
    Während er lustlos die salzarme Suppe aß, ließ er wie ein Tier, das jeden Augenblick seinen aus dem dichten Unterholz hervorkommenden Häscher zu erblicken fürchtet, den Blick durch den Raum springen (mit dem Absetzen der Medikamente hatte die Überaktivität der Dopamin-Signalwege in seinem Gehirn begonnen, was Wahnvorstellungen verursachen konnte). Umso entschlossener stieß er, nachdem er lustlos von dem Kartoffelpuffer gekostet hatte, seinen Löffel in die glibberige braune Puddingmasse und formte dabei tonlos mit zitternden, leicht geöffneten Lippen beharrlich das eine immer gleiche Wort:

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