Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
überrascht, zusammengebrochen und schielte mit bereits halb erloschenem, ungläubigem Blick in den strahlend blauen Himmel über Hanau, während Helmut Jansen in der urologischen Praxis Dr. Benders saß und mit feuchtkalten Händen eine speckige, mehrere Wochen alte Ausgabe des Nachrichtenmagazins Focus durchblätterte.
    Helmut hasste Wartezimmer. Wer in Wartezimmern saß und dabei Angst verspürte, hatte ein Problem. Sein Puls hämmerte in seiner Brust, und seine Mundschleimhäute waren ausgetrocknet. Nur unter größter Anstrengung gelang es ihm, dagegen anzukämpfen, aufzuspringen und hinauszulaufen in den sonnigen Tag, um in der Kühle einer über Mittag geöffneten Espresso-Bar bei einem eiskalten Glas Bier seine pochenden Schläfen abzukühlen. Doch im selben Moment öffnetesich die Tür des Wartezimmers, und eine junge sonnengebräunte Frau kam herein, grüßte flüchtig und nahm ihm gegenüber Platz. Offenbar war sie gekommen, um ihren Mann abzuholen.
    Das nussbraune schulterlange Haar trug sie zu einem dichten Pferdeschwanz gebunden. Sie war mit einem erdbeerroten Seidenrock, ebenfalls roten Pumps und einem schneeweißen, tief ausgeschnittenen T-Shirt bekleidet, dessen gebirgiges Panorama Helmut leer schlucken ließ. Er musste sich beherrschen, sie nicht immerzu anzustarren, die wie gemalt vor der hellen Zimmerwand thronte. Doch so, als wäre sie allein im Raum, nahm sie, ohne ihm weiter Beachtung zu schenken, eine Zeitschrift und blätterte darin wie jemand, der mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Aus dem Nebenraum, durch die halb offene Tür hindurch, ertönten folgende Geräusche: Stimmen, das Klappern von Computertastaturen, Telefonklingeln, das Rattern eines Laserdruckers, gedämpftes Reden, das Quietschen sich öffnender und schließender Aktenschränke.
    Helmut spürte mit ernüchternder Klarheit, wie sternenweit dieses inzwischen in seine Lektüre vertiefte, wunderbar anzuschauende Geschöpf von ihm entfernt war, das er, so dezent wie möglich, immerzu mit Blicken abweidete. Eine Cherubserscheinung, die Vertreterin einer anderen, überirdischen Spezies, in deren Einflussgebiet Normalsterbliche wie er nicht vordrangen; Männer an der Ruhestandsgrenze und darüber hinaus, die sich deutlich in der geistigen Abwärtsbewegung befanden und im physischen Sinkflug und die, gequält von Prostatabeschwerden und Bandscheibenvorfällen, froh sein durften, dass Frauen wie diese überhaupt noch bereit waren, die gleiche Luft wie sie zu atmen.
    Alles an dieser jungen Frau signalisierte ihm Desinteresse: von der aufreizend kühlen Art, mit der sie den Raum betretenhatte, bis hin zu dem gelangweilten rhythmischen Wippen ihrer Beine. Trotzdem stand sie in Helmuts Augen für die Zukunft und für das Leben selbst, während er, so hatte es jedenfalls den Anschein, in eine Sackgasse geraten war, hinter der alles Gewesene plötzlich zurückblieb und von der nicht klar war, wohin ihn sein daraufhin eingelegter Krebsgang am Ende führen würde.
    Er biss sich in leise anschwellender Verzweiflung auf die Lippen, zuerst sanft und vorsichtig, schließlich aber immer fester und so ungestüm, dass er fürchtete, jeden Moment müsse Blut spritzen. Denn auf einmal war da dieses unbändige Verlangen in ihm, sich selbst zu verletzen und dafür zu bestrafen, dass er so lange fühllos und scheinbar ausschließlich darauf bedacht, Anerkennung und Erfolge zu sammeln, durch die Welt gegangen war, ohne zu begreifen, wie fragil, wie zart besaitet und leicht umzuwerfen er in Wirklichkeit war.
    So viele seiner Altersgenossen hatten in ihrer Selbstüberschätzung geglaubt, unzerstörbar zu sein, und ihr Schicksal sinnlos und unnötig herausgefordert, hatten gesoffen, geraucht und gehurt. Und was war aus ihnen geworden? Krebs- und Hirnschlagpatienten, die Chemotherapien über sich ergehen lassen mussten oder bereits hirntot in Apalliker-Kliniken lagen, weil sie nicht bereit gewesen waren, sich auch nur einmal in Demut zu üben, statt pausenlos das Amüsement zu suchen.
    Wieso, fragte Helmut sich betroffen, hat es dieses Störfalls bedurft, um mich auf solche Gedanken zu bringen? Habe ich tatsächlich geglaubt, unverwundbar zu sein?
    Lüstern, wie man eine köstliche Praline taxiert, bevor man sie sich mit geschlossenen Augen auf die Zunge schiebt und darauf zergehen lässt, aber auch irgendwie bedauernd glitt sein Blick inzwischen zum x-ten Mal über die straffen schlanken Beine seines Gegenübers. Und dabei schwor er sich, seinLeben von

Weitere Kostenlose Bücher