Die Ängstlichen - Roman
nach Hause (nicht selten sogar alle beide), bezog sein altes Jugendzimmer und tat so, als seien große Ferien und als sei die Zeit im Hause Taubitz stehengeblieben.
Clara eilte dann und wann, mit einem weißen Kittel bekleidet, geschäftig durchs Treppenhaus, empfing oder verabschiedete Kunden und tauchte gegen eins in der Küche auf, wo sie sich zumeist wortlos irgendeine kleine Mahlzeit zubereitete oder sich über telefonisch Bestelltes hermachte. (Ihre Vorliebe für chinesische Fast-Food-Gerichte, mal eben rasch beim Chinamann unten an der Ecke geholt, war nicht nur Rainer ein Dorn im Auge, der ohnehin kein gutes Haar an den Chinesen und Japanern ließ und sie gerne als »ferngesteuerte Schlitzaugen« und »gelbe Plage« diffamierte; auch Ulrike missfiel der süßsaure Geruch, der noch in der Küche hing, nachdem Clara bereits längst wieder in ihr unterirdisches Reich entschwunden war, um beim Blick durch ihre beleuchteteVergrößerungslampe mit podologischem Eifer eingewachsenen Zehennägeln zu Leibe zu rücken.)
Robert studierte seit Jahren in München Psychologie und machte nicht den Eindruck, demnächst seinen Abschluss in Angriff nehmen zu wollen, und Carl, eine jungenhafte, dickliche Ausgabe ihrer selbst, verbrachte die meiste Zeit in Köln vor dem Computer, schrieb irgendwelche Programme, spielte einmal die Woche Tennis und hielt sich mit gelegentlichen Computerschulungskursen mehr schlecht als recht über Wasser.
Sie hatten sowohl Robert als auch Carl stets und gegen ihre Überzeugungen in ihren zumeist spleenigen und weltfremden Ideen unterstützt (getreu dem Motto: Wir glauben an dich! Ja, du schaffst das, denn du bist großartig und etwas ganz Besonderes!), nicht selten auch materiell, hatten ihnen Perspektiven in anderen erfolgversprechenderen Richtungen aufgezeigt und mit ihnen Entwicklungschancen durchgespielt und an ihren Kampfgeist appelliert. Doch ohne Erfolg. Denn wirklich geplatzt war der Knoten bei keinem von ihnen.
Ihre Kinder waren gehemmte und in ihrer Entwicklung stagnierende Versager, die sich weigerten, die Pubertät hinter sich zu lassen. Ganz zu schweigen von den nicht abreißenden, nach Köln und München fließenden Geldströmen. (Zum Fenster hinausgeworfene Gelder, mit denen Rainer und Ulrike ihre Schuldgefühle kompensierten und die, in den neuesten i-Pod, sündhaft teure elektrostatische Standlautsprecher der Marke »Magnepan« oder noch mehr Computer-Hardware angelegt, so fruchtlos blieben wie kurze, sporadisch über der afrikanischen Steppe niedergehende Regengüsse.)
Als Ulrike zu ihrem Wagen zurückkehrte, klemmte an der Windschutzscheibe ein Strafzettel hinter dem Wischer, und der Hilfspolizist, der ihn ausgestellt hatte, stand daneben und war im Begriff, sich eine Zigarette anzustecken.
»Aber ich bin doch nur drei Minuten weg gewesen!«, log Ulrike, betätigte den Unlock-Button ihres Infrarot-Türöffners und stellte die hellbraune Papiertragetasche in den Kofferraum.
»Unzulässiges Parken in zweiter Reihe!«, antwortete der Beamte trocken, inhalierte und wandte sich ab.
»Ach kommen Sie«, ließ Ulrike nicht locker und lief ihm nach. »Seien Sie doch kein Unmensch. Haben Sie ein Herz für eine alleinstehende Frau!«
Sie konnte sich nur wundern über das, was ihr da gerade über die Lippen gekommen war. Wieso alleinstehende Frau? Seit Jahrzehnten steckte sie knietief im Ehesumpf fest, und dieser Sumpf oder besser das, was an dessen finsterem, schlammigem Grund lauerte, war nun im Begriff, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.
»Halten verboten!«, erwiderte der Beamte ebenso knapp wie stur. Wie mit letzter Kraft deutete er auf das Verbotsschild, das keine zehn Meter entfernt stand, ließ den Arm sinken und ging davon.
»Mist!«, knurrte Ulrike, zog den Strafzettel hinter dem Wischer hervor, zerknüllte ihn und ließ ihn achtlos zu Boden fallen. Dabei dachte sie: Der Wagen ist auf Rainer zugelassen, soll der sich doch damit herumärgern.
Es war zum Haareraufen. Erst Johannas Gekläffe und nun auch noch so etwas. Griesgrämig stieg Ulrike in den Wagen und warf die Handtasche auf den Beifahrersitz, schaltete die Warnblinkanlage aus und fädelte sich nach einem kurzen Blick in den Seitenspiegel in den fließenden Verkehr ein. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sich von niemandem mehr ärgern zu lassen. Nicht von Johanna und ihren Launen, nicht von Rainer, der mit seinem fortgesetzten Fernbleiben offenbar alles daransetzte, sie sich zu seinem ärgsten Feind
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