Die Ängstlichen - Roman
zu machen. Und auch nicht von so einem dahergelaufenen Wicht in Uniform.Trotzdem stiegen der Groll und der Hass in ihr auf wie Untote aus offenen Gräbern in diesen blödsinnigen Horrorfilmen, die sie sich manchmal im Fernsehen angesehen hatte, weil Rainer Gefallen an solchen Sachen fand.
Ulrike steuerte den Wagen Richtung Innenstadt, und diesmal stellte sie ihn auf einem regulären Parkplatz ab. Und nachdem sie Geld in die Parkuhr geworfen hatte, betrat sie zwei Querstraßen weiter »Lisas Lingerie«, einen mit mahagonifarbenem, bei jedem Schritt knirschendem Parkett ausgelegten Laden, in dessen Raummitte ein von massiv geschwungenen Beinen dominierter Eisentisch stand, hinter dem eine blondgelockte Frau in einem Rollstuhl saß und sie freundlich ansah. Vor ihr stand ein Telefon, daneben, schräg an der Seite, eine alte metallene Registrierkasse, neben der ein Stapel Modemagazine lag.
Ulrike war die einzige Kundin und ließ eine Zeitlang wortlos und dabei immer wieder zustimmend nickend ihren Blick über die zahlreich auf diversen Präsentationsflächen drapierten Dessous gleiten, strich da und dort prüfend mit der Hand über den knisternden Stoff eines Büstenhalters oder eines Slips. Irgendwann drehte sie sich um und sagte: »Ich suche etwas Ausgefallenes, wenn Sie verstehen, was ich meine? Etwas, das …« Hier brach ihre Stimme ab.
»Aber gerne!«, erwiderte die andere lächelnd. Offenbar spürte sie, in welch innerer Not Ulrike sich augenblicklich befand. (Doch weshalb eigentlich? Schließlich war sie kein Monster und es ihr durchaus gestattet, Reizwäsche zu tragen.)
Die Verkäuferin, deren erotische Erscheinung mit dem Rollstuhl auf geheimnisvolle Weise verschmolzen zu sein schien, legte beide Hände auf die Hartgummireifen und vollführte durch geschicktes ruckartiges Manövrieren eine lässige Drehung nach rechts, hin zu einer der Kommoden. Anschließend zog sie, leicht vorgebeugt, verschiedene Modelle auseiner der Schubladen hervor. Und keine fünf Minuten später stand Ulrike, bekleidet mit einer dezent mit Rüschen besetzten, schreiend roten Kombination aus Slip, Strapsen und BH in der einschüchternd grell erleuchteten und noch dazu schlauchengen Umkleidekabine und ließ (entsetzt und der Platzangst nahe) ihren Blick über das wandern, was sie im Spiegel sah: den unbarmherzig ausgeleuchteten Körper einer schlecht proportionierten, deutlich in die Jahre gekommenen Frau nach glücklich überstandener Menopause, die im Begriff war, sich lächerlich zu machen.
Der Slip erzeugte auf beiden Seiten tiefe, schmerzhafte Einschnitte in der welligen, schlaffen Haut der Oberschenkel, zwickte und schnürte ihr in den Leisten das Blut ab und schob die Haut darunter widerlich zusammen. Doch nicht genug: An den Seiten hingen die Strapse wie verschmorte Stromkabel herunter, und die in ihrer Farbgebung wechselnden, mit feinen Mustern bestickten Cups des Büstenhalters pressten ihre kleinen birnenförmigen Brüste auf so unvorteilhafte Weise zusammen, dass sie unnatürlich hervorquollen. Bestürzt dachte Ulrike: O Gott, wie ich aussehe! Wie eine Vogelscheuche! Zum Davonlaufen!
Sie fühlte sich schrecklich; die Vorstellung, Rainer mit neuer verführerischer Unterwäsche zu überraschen, hatte sich als undurchführbare Idee erwiesen. Tränen liefen über ihre Wangen, und die Gedanken an das, was in den letzten Tagen und Stunden vorgefallen war, schnürten ihr die Luft ab.
Schluchzend brach Ulrike auf dem Schemel zusammen, auf dem ihre Kleider lagen, und presste zitternd die Hände vors Gesicht. Minutenlang wimmerte sie leise, ohne auf die Frage der Verkäuferin, ob mit ihr alles in Ordnung sei, zu antworten.
Nachdem sie sich wieder angezogen hatte und einigermaßen gefasst die Boutique verlassen konnte, musste sie darandenken, wie sie die alte Brother-Reiseschreibmaschine aus dem Keller (wo sie seit Jahren unberührt zwischen Weinflaschen, Gartenwerkzeug und dem schweren Werkzeugkasten gestanden hatte) heraufgeholt, flüchtig entstaubt und den verschrammten grauen Deckel abgenommen hatte. Und wie ihr der ranzige, trockene Geruch von altem Schmieröl in die Nase gestiegen war.
Eine wilde Entschlossenheit hatte sie durchrieselt, als sie, nachdem sie die Tauglichkeit des Farbbandes geprüft, die abgeschabten, schwer gängigen Tasten gedrückt hatte und die Typen schwarze Buchstaben aufs Papier geworfen hatten. Und plötzlich war ihr die Sprengkraft dessen, was dort auf dem Papier geschrieben stand, bewusst. Wie ein
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