Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
Schwarm Kohlraben, der an einem grauweißen Winterhimmel vorüberflog, waren die Worte beim letztmaligen Lesen schwer und träge an ihr vorbeigezogen.
    Als junges Mädchen hatte sie manchmal ihre sie verwirrenden Gedanken in einem Tagebuch festgehalten, um Distanz zwischen sich und ihre Vorstellungen zu bringen und die Last von ihrer Seele zu nehmen. Doch als sie das Geschriebene Jahre später las, musste sie schmunzeln und schämte sich nachträglich für ihre einstige Naivität.
    Erschöpft setzte sie sich, nachdem sie den Laden überstürzt verlassen hatte, in ihren Wagen, fuhr aber nicht sofort los, sondern versuchte, mit geschlossenen Augen und gegen die Kopfstütze gelegtem Kopf, sich vorzustellen, was sein würde, wenn Rainer nach Hause käme (womöglich war er das ja schon?).
    Sie nahm ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach, schnäuzte sich ausgiebig und steckte das zu einer widerspenstigen Kugel geformte Tuch in ihre offene Handtasche. Im Rückspiegel prüfte sie flüchtig ihr ramponiertes Make-up, trug neue Farbe auf, zog Linien nach. Anschließend lenkte sie den Wagen wie ferngesteuert durch den inzwischen dichtergewordenen Verkehr, ausgelaugt vom Weinen und müde von ihren sich immerzu im Kreis drehenden Gedanken. Aber auch ein Stück weit befriedigt, so als habe sich eine höhere Macht am Ende ihrer armen Seele erbarmt.
     
    D ie Kunst bestand darin, eine überzeugende Version seines gelebten Lebens vorweisen zu können, die man schlüssig und glaubwürdig wieder und wieder erzählen konnte, so dass man unverdächtig erschien. Eine solch überzeugende Version aber, das musste Rainer sich eingestehen, besaß er nicht. Was er besaß, waren verschiedene und einander noch dazu widersprechende Versionen. Er war der Architekt und Bewohner eines Lügengebäudes, das ihn umschloss wie eine künstliche Schale, die er manchmal so eng auf der Haut trug, dass er sie für die eigene hielt. Niemand wusste das so gut wie Ulrike.
    Dann und wann, wenn er ein Buch las, hatte er das Gefühl, aus dem Gewirr der Buchstaben blickten ihn wie aus einem Gebüsch Augen an. Und wenn er an Ulrike dachte, so wie jetzt, sah er bisweilen ebendiese Augen, nur mit dem Unterschied, dass ihre Lider geschlossen waren.
    Rainer schaltete unwillig das Handy ein. Ein kurzes Vibrieren erfasste das Gerät, dann bauten sich die Akkuanzeige und die Signalstärkeanzeige auf; Letztere signalisierte ihm in Form von fünf in der Manier von Orgelpfeifen ansteigenden blauen Balken bestmöglichen Empfang. Der Schriftzug des Funknetzanbieters blendete sich ein, er hatte sich eingeloggt, und der kleine gelbe Briefumschlag daneben blinkte.
    Er öffnete den Mitteilungsordner und sah, dass acht ungelesene Nachrichten verzeichnet waren, allein fünf von Ulrike, die mit dem Kürzel FOX in seinem Verzeichnis gespeichert war.
    FOX war ein Relikt aus ihrer ersten Zeit, als sie noch ineinander verliebt gewesen waren und unter dauerhaftem erotischem Wechselstrom gestanden hatten, und ging auf eine kleine Entdeckung zurück, die Rainer, damals mit seinem Gesicht zwischen Ulrikes gespreizten Schenkeln, zu ihrer beider Belustigung gemacht hatte: Oberhalb ihres ansonsten mit einem dichten dunkelbraunen Flaum bedeckten Geschlechts hatte er ein fuchsrotes Büschel Haare entdeckt. Er hatte Ulrike daraufhin lachend FOX getauft und fortan spaßhaft immer wieder so genannt, hatte sie gekost und ausgelassen geliebt. Und ohne dass es ihnen aufgefallen wäre, waren sie dabei geblieben. Ulrike war FOX. Wenn Rainer seinerseits etwas in ihrer Mailbox deponierte, erschien »Rain Man« auf dem Display ihres Handys.
    Rain Man ging auf den gleichnamigen Film mit Dustin Hoffman und Tom Cruise zurück, in dem Hoffman einen Autisten gab, der über eine geradezu übernatürliche Auffassungsgabe verfügte. Sie hatten sich den Film in einem Autokino, irgendwann Mitte der neunziger Jahre, in der Nähe von Frankfurt angesehen, und Ulrike hatte ihn anschließend Rain Man genannt.
    Rainer hatte sich damals geschmeichelt gefühlt, weil er glaubte, Ulrike halte ihn für ebenso genial, und wäre nie auf die Idee gekommen, das Autistische dieser Figur in irgendeiner Weise auf sich zu beziehen. Doch das alles war lange her und entlockte ihm inzwischen nicht einmal mehr ein Schmunzeln. Argwöhnisch ging er die Liste derer durch, die sich auf seiner Mailbox befanden:
    FOX
    FOX
    FOX
    001-212-546 23   345
    FOX
    069-467 98   007
    FOX
    040-123 55   675
    Rainer schüttelte den Kopf und drückte so

Weitere Kostenlose Bücher