Die Ängstlichen - Roman
Leere, aus dem sich langsam und zunächst verschwommen, schließlich aber klar und deutlich ein Bild aufbaute: die Umrissevon Helmuts Gesicht, der draußen im Hof stand und zum Fenster hereinsah.
Erschrocken sprang Johanna auf, öffnete das Fenster und rief überrascht: »Du? Aber wieso klingelst du denn nicht? Oder klopfst? Oh, es regnet ja. Schnell, komm rein!«
Helmut war vollkommen durchnässt und sah sie betreten an. Johanna schloss und sicherte die Läden, machte hastig das Fenster zu und lief, bevor sie Helmut einließ, zum Tisch, nahm die Sparbücher und legte sie zurück in ihr Haushaltsbuch, das sie anschließend an seinen Platz hinter der Aluminiumschüssel tat.
Helmut sah im Licht der Küchenlampe aus, als habe er seit Stunden im Hof gestanden. Sein schütteres, an den Schläfen bereits ergrautes Haar klebte an der glänzenden, stets sonnengebräunt wirkenden Stirn. Seine Wangen waren gerötet, und an seiner Nasenspitze hing ein Wassertropfen. Seine hellbraune Wildlederjacke umhüllte ihn schlapp und formlos, die Schulterpartien schimmerten schwarz.
»Wo kommst du denn her? Jetzt? Um diese Zeit?«, sagte Johanna und lief ins Bad, um ihm ein Handtuch zu holen, mit dem er sich abtrocknen konnte. (Unter anderen Umständen hätte sie sich zweifellos erfreut gezeigt über seinen spontanen Besuch. Sie hatte ihn ohnehin anrufen wollen, um ihn zu ihrem Fest einzuladen.)
»Hier, nimm!«, sagte sie und hielt ihm das geblümte Frotteetuch hin. »Und zieh um Gottes willen die nassen Sachen aus, du holst dir ja den Tod!« Über dem linken Arm hielt sie Janeks weinroten Bademantel. (Johanna war für wenige Momente eher unfreiwillig wieder ganz in ihrem Element, sie gab den Ton an, führte wie eh und je Regie. Starksein war zwar einerseits lebenslang ihre Domäne gewesen; andererseits aber hatte sie all die Zeit insgeheim davon geträumt, schwach und noch einmal das Mädchen sein zu dürfen, das sie einst war.)
»Vom Arzt!«, antwortete Helmut, nachdem er die durchweichte Jacke abgestreift und ins Spülbecken gelegt, seine an den Spitzen vom Regen ramponierten Schuhe und die restlichen ebenfalls völlig durchnässten Sachen ausgezogen hatte und ihr im Bademantel gegenübersaß. Wie versteinert starrte er den Kühlschrank an.
»Vom Arzt?«, sagte Johanna und zog die Stirn kraus. »Was heißt das, vom Arzt? Jetzt? Um diese Zeit?«
»Nicht direkt«, antwortete Helmut ausweichend, »aber so ungefähr.«
»Was redest du denn da? Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, sagte Johanna, ging mit dem elektrischen Wasserkocher in der Hand zur Spüle und drehte den Warmwasserhahn auf.
»Sie wollen mich operieren!«, platzte es nun aus Helmut heraus. »Verdacht auf Blasenkrebs.« (Dieses Wort war kein einziges Mal gefallen. Trotzdem hatte er das sichere Gefühl, dass es sich nur um etwas Derartiges handeln konnte. Weshalb sonst hatte Dr. Bender ihn ins Krankenhaus überwiesen? Gewiss nicht, weil er glaubte, in seiner Blase gehe alles mit rechten Dingen zu. Nein, hier lag zweifellos ein konkreter Verdacht vor. Daran bestand für Helmut inzwischen kein Zweifel mehr.)
Johanna zuckte zusammen und ließ den Kocher los, der klappernd in die Spüle fiel. Sie sah reglos mit an, wie das Wasser aus dem Behälter lief und in kleinen konzentrischen Strudeln im Abfluss verschwand. Schließlich sagte sie: »Sie wollen dich sofort operieren?«
»Nicht sofort«, erwiderte Helmut betreten, »erst machen sie noch irgendwelche Untersuchungen. Es sieht jedenfalls nicht gut aus.«
»Auch das noch!«, sagte Johanna.
Helmut sah sie fragend an. »Was heißt, auch das noch? Istdas etwa noch nicht genug? Verdacht auf Krebs? Ich habe, um ehrlich zu sein, Angst, Mutter. Verstehst du, was ich sage?«
Doch ohne auf das einzugehen, was er gesagt hatte, erwiderte sie: »Ich habe den ganzen Tag versucht, dich anzurufen …«
»Ja und wenn schon, Mutter!«
»Die Polizei war bei mir, sie haben in Steinheim Janeks Wagen gefunden, voller Blut. Außerdem hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie sagen, alles deute darauf hin, dass er Selbstmord begangen hat … erschossen oder erstochen, irgend so etwas. Und nun auch noch du, o mein Gott, Helmut! Was ist das bloß für ein vermaledeiter Tag?«
Ihre Stimme sprang gegen Ende des Satzes um mehr als eine Oktave nach oben, und die tapfere Haltung, die Selbstsicherheit, die sie gewonnen hatte, schien plötzlich wie weggewischt.
»Was? Janek ist tot?«, murmelte Helmut halblaut. Er sah zu Boden. (Unter
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